Anleitung zum Alleinsein
dass man leicht zu haben ist; bevor ein Buch einen verändern kann, muss man es lieben. Oder den Schriftsteller als Koch, der dieses vielgängige Menü als Geschenk an den Leser zubereitet. Nicht nur Eiscreme, sondern auch Wildbroccoli.
Schwierige Literatur der Art, für die Gaddis steht, scheint mir mehr mit dem hinteren Ende des Verdauungstrakts zu tun zu haben. Seine Kritiker verweisen auf seine «Logorrhö», genauer ist es jedoch, ihn als retentiv zu charakterisieren – bis zur Unlesbarkeit, manchmal sogar bis zur Unverständlichkeit verstopft. Edmund Wilson charakterisierte in seiner freudianischen Phase den Dramatiker Ben Jonson als klassischen anal-retentiven Autor, der besessen sei von Ausscheidungen, Geld, Listen, zwielichtigen Unterwelten, geheimnisvollen Wörtern, obskuren Verweisen. Wilson meinte, die besten Schriftsteller vertrauten ihrem Talent, und er hielt Jonsons verkrampften Hervorbringungen die seines Freundes und Rivalen Shakespeare entgegen, dessen «offene und freie Natur» Jonson selbst rühmte.
Der Alchemist
, Jonsons eigentümliches Stück über einen Londoner Betrüger, der behauptet, Gold herstellen zu können, liest sich wie ein Renaissance-Gaddis. Beide Autoren stopfen viel zu viele Schwindeleien in die Handlung, für beide ist Geld die Scheiße der Welt (Recktall Brown!), faszinierend und abstoßend zugleich.
Wenn ich jetzt selber ein wenig freudianisch klinge, dann deshalb,weil die ersten Zeilen auf Seite 523, dem Endpunkt meiner zweiten Lektüre von
JR
, so ganz an feststeckende Exkremente erinnern:
wobei Spuren von Arsenkies nachgewiesen wurden, Folge, Nonny soll die Möglichkeiten einer Sonderabschreibung für nicht erneuerbare Ressourcen sondieren, das ruft natürlich die Gesundheitsbehörde auf den Plan mit ihren Kobaltgrenzwerten, und zu guter Letzt hängt sich auch noch Milliken rein, weil, für ihn steht die wirtschaftliche Zukunft der ganzen Region auf dem Spiel, außer Schafen und Indianern haben die ja nichts, bis er plötzlich die Idee hat, sein Staat sitzt
Schlank und ökonomisch? Der Roman
JR
leidet an ebendem Wahn, dem er zu widerstehen sucht. Die ersten zehn Seiten und die letzten zehn Seiten und jede zehn Seiten dazwischen überbringen die «Neuigkeit», dass das Leben in Amerika seicht, betrügerisch, korrupt und künstlerfeindlich ist. Doch hat es noch keinen Leser gegeben, und es wird auch keinen einzigen geben, der von dieser «Neuigkeit» auf Seite 10 noch nicht überzeugt ist, wohl aber auf Seite 726. Der Roman entwickelt sich zu etwas ebenso Kaltem, Mechanistischem und Erschöpfendem wie das System, das er beschreibt. Seine Welt wird von weißen Geschäftsleuten regiert, die ihrer Arbeit mit freudlosem Eifer nachgehen, beiläufig Frauen und Minderheiten an den Rand drängen und schwierige Insidersprachen erfinden, um Neulinge abzuschrecken: wie eigenartig ähnlich dem Buch selbst! (Und wie eigenartig, dass Gaddis und seine akademischen Bewunderer den christlichen Puritanismus zurückweisen, nur um vom Leser zu verlangen, dass er den sündigen Freuden des Realismus abschwört und eine selbstlose, reine Liebe zur Kunst kultiviert!) Selbst die Faszination, die von JR Vansant ausgeht, schwindet mitten im Roman. JR ist eineInkarnation Bart Simpsons, doch Bart passt in unsere kulturelle Umwelt unvergleichlich besser als JR. Das geeignete Genre für wirkungsvolle, unterhaltsame Gesellschaftssatire ist die halbstündige, wöchentlich ausgestrahlte Comicserie, nicht der literarische Roman. Selbst die besten Gags in
JR
ermüden, bevor man mit ihnen durch ist. Bei den
Simpsons
treffen die Gags ins Ziel, das Ziel spürt den Schmerz, und nächste Woche gibt’s eine neue Folge.
Seltsam ist, dass ich den Verdacht habe, Gaddis selbst hätte lieber die
Simpsons
geguckt. Ich habe den Verdacht, hätte jemand anders seine späteren Romane, gerechnet ab
JR
, geschrieben, er hätte sie nicht lesen mögen, und wenn er sie gelesen hätte, dann hätten sie ihm nicht gefallen. Gaddis entwickelte einen Stil, der nach Ansicht seiner Jünger die Art und Weise, wie die Amerikaner Literatur lesen, hätte verändern sollen, doch sein eigener Geschmack war bemerkenswert konservativ. Einen besonderen Abscheu hegte er für die moderne Kunst. Für den Umschlag seines vierten Romans,
Letzte Instanz
(1994), wählte er ein abstraktes Bild seiner Tochter Sarah, ohne allerdings auf dem Umschlag zu erwähnen, dass sie es mit fünf gemalt hatte: «Na bitte, so was kann doch jedes
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