Anleitung zum Alleinsein
erdrückenden Zwang erlegen bin, ausdrücklich gegen all die Kräfte anzugehen, die dasVergnügen am Lesen und Schreiben ausmachen: als hätte ich, indem ich meine kleine Gegenwelt bevölkerte und ausstaffierte, das größere Gesellschaftsbild außer Acht lassen können, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Während ich über all das grübelte, kam ein Brief von Don DeLillo, dem ich in meiner Not geschrieben hatte. Hier ein Auszug aus dem, was er mir antwortete:
Der Roman ist das, was Romanautoren zu einer bestimmten Zeit schreiben. Wenn wir den großen Gesellschaftsroman nicht innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre schreiben, bedeutet das möglicherweise, dass sich unsere Sicht der Dinge in einer Weise verändert hat, die eine solche Arbeit für uns weniger zwingend sein lässt – wir hören aber nicht auf zu schreiben, weil der Markt ausgetrocknet ist. Der Schriftsteller folgt nicht, er führt. Die Dynamik hängt nicht etwa von der Größe des Publikums ab, sondern von der Einstellung des Schriftstellers. Und wenn der Gesellschaftsroman – sei es auf Sparflamme – lebt, wenn er in den Ritzen und Nischen der Kultur überdauert, wird er vielleicht ernster genommen: als ein gefährdetes Spektakel. Ein reduzierter Kontext, aber einer, der intensiver ist. Schreiben ist eine Form persönlicher Freiheit. Es befreit uns von der Massenidentität, die wir um uns herum entstehen sehen. Letztlich werden Schriftsteller nicht schreiben, um geächtete Helden irgendeiner Subkultur zu sein, sondern vor allem, um sich selbst zu retten, um als Individuen zu bestehen.
DeLillo schrieb noch ein Postskriptum: «Wenn ernsthaftes Lesen gegen null geht, heißt das wahrscheinlich, dass das, worüber wir reden, wenn wir das Wort ‹Identität› benutzen, am Ende ist.»
Das Seltsame an diesem Postskriptum ist, dass ich es nichtohne ein Aufwallen von Hoffnung lesen kann. Der tragische Realismus hat den paradoxen Effekt, seine Anhänger in bedingte Optimisten zu verwandeln. «Ich fürchte sehr», schrieb O’Connor einmal, «dass für den Schriftsteller die Tatsache, dass wir immer die Armen auf unserer Seite haben, ein Quell der Befriedigung ist, denn das bedeutet im Wesentlichen, dass er immer einen finden kann, der so ist wie er. Die Armut, mit der er sich beschäftigt, ist eine Armut, die für den Menschen grundlegend ist.» Selbst wenn Silicon Valley es schafft, jeden amerikanischen Haushalt mit einem Virtual-Reality-Helm auszustatten, selbst wenn ernsthaftes Lesen gegen null geht – eine hungrige Welt jenseits unserer Landesgrenzen, eine Staatsverschuldung, angesichts deren die übers Fernsehen Regierenden kaum mehr als die Hände ringen können, sowie die guten alten apokalyptischen Reiter des Krieges, der Krankheit und der Umweltzerstörung bleiben uns erhalten. Wenn das Realeinkommen weiter sinkt, werden die in «Meine interessante Kindheit» beschriebenen Vorstädte nicht viel Schutz bieten. Und wenn es dem Multikulturalismus gelingt, aus uns eine Nation unabhängiger und starker Stämme zu machen, wird jeder Stamm seiner tröstlichen Opferrolle beraubt und gezwungen sein, sich der menschlichen Begrenztheit als dem zu stellen, was sie ist: eine Gegebenheit des Lebens. Die Geschichte ist das tollwütige Ding, vor dem wir uns, wie Sophie Bentwood, alle verstecken möchten. Doch es gibt keine Blase, die auf Dauer nicht platzt. Ob das gut oder schlecht ist, bewerten die tragischen Realisten nicht. Sie stellen es einfach dar. Eine Generation zuvor konnte Paula Fox, indem sie genau hinsah, in einem zerschellten Tintenfass Verderben ebenso wie Rettung sehen. Damals endete die Welt, sie endet noch immer, und ich bin froh, dass ich wieder ein Teil von ihr bin.
(1996)
Auf dem Postweg verloren
D er Niedergang der Chicagoer Post begann, bevor die Öffentlichkeit die ersten Anzeichen sehen konnte: bevor sich an jeder Ecke der Stadt die untoten Briefe erhoben, um das schuldige Management heimzusuchen – hundert Säcke monatealter Post im Lieferwagen eines Zustellers in der North Side, hundert Kilo neue Post, die unter einem Viadukt in der South Side brannte, über fünfzehnhundert Poststücke, die in einem flachen Grab unter einer Veranda in der West Side vor sich hin moderten, und eine Wagenladung Briefe und Pakete in den Wandschränken der Vorstadtwohnung eines Chicagoer Postboten. Der Niedergang begann am Donnerstag, dem 20. Januar 1994, gegen zwei Uhr nachmittags, als eine Frau namens Debra Doyle den Betriebsleiter
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