Anleitung zum Alleinsein
ihres Postamts anrief und ihm sagte, ihre Familie habe seit dem vergangenen Donnerstag keine Post mehr erhalten.
Im Lauf der Jahre hatte Debra Doyle eingesehen, dass sie vom Postamt Uptown, das für ihr Wohngebiet zuständig war, nur schlechten Service erwarten durfte. Zwei- und dreitägige Zustellpausen überraschten sie nicht mehr. Aber eine ganze Woche ohne Post, auch wenn es eine sehr kalte Januarwoche war, fand sie doch extrem. Am Telefon erklärte ihr der Betriebsleiter Thomas Nichols, seine Zusteller könnten die Post nicht ausliefern, weil die Lieferwagen nicht ansprängen. Er sagte, wenn sie ihre Post haben wolle, müsse sie sie eben selbst bei ihm im Postamt abholen. Vielleicht glaubte Nichols nicht, dass Doyle sich bei diesen Minusgraden tatsächlich aus dem Haus wagen würde, doch nachdem sie mit ihm gesprochen hatte, ging sie sofort zu ihrem Auto.
Die Bevölkerung im Zuständigkeitsbereich des ChicagoerPostamts Uptown ist in ihrer Vielfalt so etwas wie eine Enzyklopädie der Stadtbewohner im heutigen Amerika. Berufstätige wie Rentner wohnen in Hochhäusern oder großen Anwesen am Michigan-See, Obdachlose und Drogensüchtige treiben sich in der Lawrence Avenue und Bryn Mawr Avenue herum, und zu beiden Seiten der Hochbahn teilen sich asiatische und osteuropäische Einwanderer die kleinen Straßen mit alteingesessenen Mittelschicht-Chicagoern wie Debra Doyle. Jahrelang war das Einzige, das diese Leute gemein hatten, die Postleitzahl 60640 – das und die Unannehmlichkeiten, die sie immer dann, wenn sie aufs Postamt Uptown mussten, erwarteten. Die Schalterhalle roch wie ein U-Bahnsteig . Die Angestellten schienen keine anderen Freuden im Leben zu kennen, als in Stoßzeiten Kaffeepause zu machen und Päckchen mit der Aufschrift «Zerbrechlich» meterweit in Säcke zu schleudern. Die Kunden veranschlagten eine Stunde, wenn sie ein Paket abholen gingen.
Als Debra Doyle die Filiale betrat, fragte sie nach Nichols. Man sagte ihr, er sei nicht im Haus. Misstrauisch wählte sie vom Münztelefon in der Schalterhalle aus die Nummer des Postamts. Es meldete sich Nichols. Was dann folgte, war eine archetypische Chicagoer Szene: eine zornige Postkundin stellt einen ausweichenden, unfreundlichen Betriebsleiter zur Rede. Solche Szenen endeten bestenfalls mit dem Versprechen, in Zukunft einen besseren Service zu gewährleisten; schlimmstenfalls damit, dass der Leiter dem Kunden Obszönitäten an den Kopf warf.
An jenem Nachmittag aber, als Doyle und Nichols am Telefon aneinandergerieten, schritt eine große, energische Frau in die Schalterhalle der Filiale Uptown und fragte, ob sie behilflich sein könne. Sie stellte sich als Gayle Campbell vor. Doyle erklärte ihr das Problem, worauf Campbell in einen hinteren Raum verschwand. Wenige Minuten später kehrte sie mit Doyles Post einer ganzen Woche wieder. Sie gab ihr auch die Nummern ihres Piepsers und ihres Anschlusses zu Hause und forderte sie auf, sieanzurufen, sollte sie weiteren Ärger mit der Zustellung haben. Dann verschwand sie wieder nach hinten.
Der United States Postal Service, der umfassende Zustelldienst des Landes für Briefpost, hat ein Problem mit Großstädten. Im vergangenen Winter, als Doyle und Campbell aufeinandertrafen, fanden achtundachtzig Prozent aller nationalen Haushalte ihren Postdienst «gut», «sehr gut» oder «hervorragend», in Städten wie New York und Washington lag die Zufriedenheitsrate hingegen bei lediglich etwa fünfundsiebzig Prozent, und Chicago bildete mit mageren vierundsechzig Prozent das Schlusslicht. Über ein Drittel der Chicagoer bewerteten den Dienst als «schlecht» oder «mittelmäßig», und in den dicht besiedelten, wohlhabenden Bezirken am nördlichen Seeufer, wo der Dienst schon seit zehn Jahren miserabel war und die Frustration der Kunden ein Maß erreicht hatte, das auf Nichtbetroffene schon komisch wirkte, war die Unzufriedenheit noch größer.
Eine repräsentative Chicagoer Schreckensgeschichte, ungewöhnlich nur in ihrer Langwierigkeit, ist die von Marilyn Katz, einer Medien- und Politikberaterin. 1986 kauften Katz und ihr Mann ein neunzig Jahre altes Haus in der Magnolia Avenue, einem sicheren, dünn besiedelten Wohngebiet im Bezirk Uptown. Nachdem sie drei Jahre dort gewohnt hatten, kam schlagartig keine Post mehr. Katz rief im Laufe von zwei Wochen viermal beim Postamt Uptown an, bis der Betriebsleiter ihr endlich eine Erklärung gab. Die Erklärung war, dass der Zusteller angegeben hatte, ihr Haus stehe
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