Anleitung zum Alleinsein
neunziger Jahre verbrachte ich gefangen in einer doppelten Singularität. Nicht nur fand ich, dass ich anders war als alle anderen um mich herum; ich fand auch, dass die Zeit, in der ich lebte, grundlegend anders war als jede, die es davor gegeben hatte. Die Arbeit daran, eine tragische Perspektive wiederzuerlangen, beinhaltete für mich daher ein zweifaches Ziel: die Wiederannäherung an eine Gemeinschaft der Lesenden und Schreibenden sowie die Rückgewinnung eines Geschichtsbewusstseins.
Es ist möglich, ein allgemeines Bewusstsein für das Düstere von Geschichte zu haben, ja der mystischen dionysischen Überzeugung zu sein, dass das Spiel erst vorbei ist, wenn’s vorbei ist, ohne über ein hinreichend apollinisches Verständnis der Details zu verfügen, um dessen Tröstungen zu genießen. Noch vor einemJahr wäre es mir beispielsweise nicht eingefallen zu behaupten, dieses Land sei schon «immer» vom Kommerz bestimmt worden. 1 Ich sah einzig und allein die Hässlichkeit der kommerziellen Gegenwart, und natürlich wetterte ich gegen den Verrat an einem früheren Amerika, das in meiner Vorstellung wahrhaftiger, weniger käuflich, dem Unternehmen Literatur gegenüber weniger feindselig eingestellt gewesen war. Doch wie lächerlich kann das Selbstmitleid von Schriftstellern am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sein, gemessen am Leben von, sagen wir, Herman Melville. Wie vertraut sein Leben nämlich ist: der erste Roman, der seinen Ruf begründet, dann die schmerzliche Entdeckung, wie wenig seine Vision dem herrschenden Geschmack zusagt, das um sich greifende Gefühl, in einer rührseligen Republik keinen Platz zu haben, die furchtbaren Geldnöte, die Abwendung seines Verlegers, der desaströse kommerzielle Misserfolg seines besten und ambitioniertesten Werks, die angebliche Geisteskrankheit (seine Melancholie, seine
Depression
) und schließlich der Rückzug ins Schreiben ausschließlich für sich selbst.
Bei der Lektüre von Melvilles Biographie wünschte ich mir, er hätte ein Vorbild gekannt von einem wie ihm selbst aus einem früheren Jahrhundert, damit er den Fluch als weniger singulär empfunden hätte. Auch wünschte ich, er hätte sich während all seiner Mühen, Lizzie und die Kinder zu ernähren, sagen können: Ach, wenn es zum Schlimmsten kommt, kann ich doch immer noch Schreibkurse geben. Zu seinen Lebzeiten verdiente Melville an seinen Büchern ungefähr 10 500 Dollar. Nicht einmal heute läuft es für ihn besser. Auf dem Titelblatt des zweiten Bandes von Melvilles gesammelten Werken in der ersten Auflagestand, in der Library of America, in 2 4-Punkt -Auszeichnungs schrift der Name HERMAN MEVILLE.
Vergangenen Sommer, als ich begann, mich mit der amerikanischen Geschichte vertraut zu machen, und mit Lesenden und Schreibenden sprach und über den Heath’schen «sozial Isolierten» nachdachte, reifte in mir die Erkenntnis, dass meine Befindlichkeit keine Krankheit, sondern eine Wesensart war. Wie konnte ich mich denn
nicht
entfremdet fühlen? Schließlich war ich ein
Lesender
. Meine Wesensart hatte die ganze Zeit auf mich gewartet, und nun hieß sie mich willkommen. Auf einmal wurde mir bewusst, wie ungeheuer hungrig ich danach war, eine imaginierte Welt zu erschaffen und zu bewohnen. Der Hunger war wie eine Einsamkeit, an der ich langsam starb. Wie konnte ich nur glauben, ich müsste mich heilen, um in die «wirkliche» Welt zu passen? Ich brauchte keine Heilung, und die Welt brauchte auch keine; das Einzige, was der Heilung bedurfte, war mein Verständnis von meinem Platz in ihr. Ohne dieses Verständnis – ohne das Wissen, der wirklichen Welt
anzugehören
– war es unmöglich, in einer imaginierten Welt zu funktionieren.
Im Zentrum meines Verzweifelns am Zustand des Romans hatte das gestanden: ein Konflikt zwischen einem «Stelle dich endlich der Kultur und bereichere den Mainstream»-Gefühl und meinem Wunsch, über mir besonders am Herzen liegende Dinge zu schreiben, mich in die Figuren und Orte, die ich liebte, zu verlieren. Schreiben, aber auch Lesen waren zu einer grimmigen Pflicht geworden, und bedenkt man die jämmerliche Bezahlung, gibt es wirklich keinen Grund, das eine wie das andere zu tun, wenn man keinen Spaß daran hat. Sobald ich meine vermeintliche Verpflichtung gegenüber der Chimäre Mainstream über Bord geworfen hatte, ging es mit meinem dritten Buch wieder voran. Heute bin ich verblüfft darüber, dass ich mir so lange so wenig zugetraut habe, dass ich einem so
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