Anleitung zum Alleinsein
Angestellte des Innendienstes, Sortierer und Betriebsleiter.
Der Stellenabbau traf Chicago besonders hart. Ein so antiquiertes System wie das in Chicago funktioniert nur mit Sachkenntnis, und Ende 1992 verlor es fünfzehnhundert seiner ältesten Mitarbeiter, also fast zehn Prozent der gesamten Belegschaft.Ehemaliges Verteilungs- und Verwaltungspersonal wurde in Filialen versetzt, in denen nur noch wenige erfahrene Mitarbeiter als Ausbilder zur Verfügung standen. Das ganze Jahr 1993 hindurch gab es schlicht nicht mehr genügend Personal, um der anfallenden Arbeit Herr zu werden. Weil das Management es sich nicht leisten konnte, auch nur einen vom Dienst zu suspendieren, führte es «Pro-forma-Suspendierungen» ein, was bedeutete, dass ein Bediensteter aufgrund von Verfehlungen bis zu drei Suspendierungen erhalten konnte und dennoch keinen einzigen bezahlten Arbeitstag versäumte.
Das alles hatte absehbare Auswirkungen auf die Disziplin. Schleichender war die Untergrabung der Arbeitsmoral. Ohne gute Aufsicht ist die einzige Belohnung für diejenigen Zusteller, die hart arbeiten und mit ihrer Tour schon am frühen Nachmittag fertig sind – und solche Zusteller, das sei betont, bilden in den meisten Filialen die Mehrheit –, dass sie die liegengebliebene Arbeit fauler Kollegen aufgehalst bekommen. Die Belohnung für schlechte Zusteller hingegen, diejenigen, die den Nachmittag durchtrinken und ihre Tour erst bei Einbruch der Dunkelheit beenden, sind bezahlte Überstunden. Schlechte Aufsicht erzeugt ein System verkehrter Anreize, ein System, das die Manager in Washington gern
«the Culture»
nennen. Die Postbediensteten, die unter dem Einfluss dieser
«Culture»
stehen, arbeiten so wenig wie möglich, außer an jedem zweiten Donnerstag. An zwei Donnerstagen im Monat können die Postboten nämlich ihren Gehaltsscheck abholen, sobald sie mit ihrer Tour fertig sind, und dann hat ganz Chicago seine Post schon am frühen Nachmittag.
Erich Walch, ein alteingesessener Chicagoer, der in Evanston arbeitet, gehört zu den vielen Zustellern, für die der Service Belohnung genug ist. Er glaubt, dass das Management der Post die Intelligenz und die harte Arbeit der engagierten Zusteller einfach nicht würdigt. Seiner Ansicht nach ist die Frustration unter ihnen deshalb so groß. «Viele kommen an einen Punkt, wo siesich sagen: ‹Ich habe alles getan, was ich kann, also mache ich jetzt weniger. Ich stelle nur noch Briefe und Drucksachen zu. Vielleicht nehme ich noch ein oder zwei zusätzliche Ladungen Postwurfsendungen mit. Und ich gehe richtig langsam. Und morgen ist auch noch ein Tag.›»
Betriebsleiter wiederum klagen, dass umständliche Betriebsvereinbarungen und obstruktive Gewerkschaften sie daran hindern, die Disziplin aufrechtzuerhalten. Diese Meinung wird von Gewerkschaftsvertretern bestritten, auch von Walch (er ist stellvertretender Vertrauensmann), der betont, die Manager seien schlicht zu faul oder uninformiert oder mit Papierkram zugeschüttet, um die Betriebsvorschriften zu beachten. In der Tat hat das vermeintlich gespannte Verhältnis zwischen Führungskräften und Gewerkschaft etwas von einem bequemen Mythos. Die Gewerkschaften liefern den Managern eine Entschuldigung für ihr schlechtes Management, was umgekehrt die Macht der Gewerkschaften in einer Filiale stärkt; die Produktivität bleibt auf der Strecke.
Auch die Bürokratie wird von der
«Culture»
durchdrungen. Verwaltungsangestellte in Chicago, ein beachtlich demoralisierter Haufen, klagen noch heute über die Inkompetenz der Manager, die im Zuge der Umstrukturierung von 1992 an die Spitze kamen. Die meisten Postbediensteten glauben, Beförderung sei mit dem Makel der Vetternwirtschaft behaftet, und obwohl Nepotismus selten unverhohlen auftritt, ist die Chicagoer Post im Wortsinn eine Familie, eine erweiterte Familie aus Tanten, Onkeln, Schwägern und Geliebten. Eine höhere Verwaltungsangestellte sagt mir: «Die Leute, die sie uns vor die Nase gesetzt haben, wurden auf Wunsch des Managements von uns ausgebildet.»
Aus Verzweiflung über die Dummheit ihres Vorgesetzten kaufte diese Angestellte jüngst bei einem Straßenhändler im haitianischen Viertel von Rogers Park eine Voodoopuppe aus Stroh. Dass die Puppe stellvertretend für ihren Chef verwünscht wurde,war ihr zehn Dollar extra wert. Zusätzlich zur Puppe gab man ihr drei Hutnadeln mit Perlenkopf, die sie ihr in Kopf, Herz und Bauch stieß. Am folgenden Morgen war das große Thema in ihrer
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