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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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tritt aus dem unbewussten Voranstürzen des Lebens heraus. Deshalb wird dem zum Tode Verurteilten eine letzte Zigarette gewährt, deshalb (so heißt es jedenfalls) standen Herren im Abendanzug paffend an der Reling, als die
Titanic
unterging: Es ist um einiges einfacher, die Welt zu verlassen, wenn man genau weiß, dass man darin anwesend gewesen ist. Wie Goethe im
Faust
schreibt: «Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick.»
    Die Zigarette ist bekanntermaßen die Verkünderin der Moderne, die lustige Gefährtin des Industriekapitalismus und des hoch verdichteten Ballungsraums. Menschenmengen, Hyperkinese, Massenproduktion, stumpfsinnige Arbeit und gesellschaftliche Umwälzung, sie alle haben ein Korrelat in der Zigarette. Die schiere Anzahl der konsumierten Einheiten stellt mit Sicherheit die jedes anderen Konsumguts in den Schatten. «Kurz, flott, leicht begonnen, leicht vollendet oder genauso leicht vor der Vollendung weggeworfen», schrieb die
Times
1925 in einem Leitartikel, den Richard Kluger zitiert, «ist die Zigarette das Symbol eines Maschinenzeitalters, in dem die eigentlichen Zähnchen und Rädchen und Hebel die menschlichen Nerven sind.» Selber das Produkt einer mechanischen Rolle namens Bonsack-Maschine, diente die Zigarette den Fließbandarbeitern als Opiat, das lange Tage zermürbender Gleichheit in erträgliche Abschnitte unterteilte. Für Frauen war die Zigarette, wie die
Atlantic Monthly
1916 bemerkte, das «Symbol der Emanzipation, der vorübergehende Ersatz für die Wahlurne». Kurz, es ist unmöglich, sich das zwanzigste Jahrhundertohne die Zigarette vorzustellen. Sie taucht mit Zelig-artiger Allgegenwart auf alten Fotos und Wochenschauen auf, so bar jeder Individualität, dass sie kaum auffällt, und dennoch, einmal wahrgenommen, absolut seltsam ist.
    Klugers Geschichte der Zigarettenindustrie liest sich wie die Geschichte der amerikanischen Industrie überhaupt. Eine Branche, um 1880 noch in Hunderte kleiner Familienbetriebe zersplittert, war 1900 unter die Kontrolle eines einzigen Mannes geraten, James Buchanan Duke, der – indem er als Erster die Bonsack-Maschine einsetzte, einen hohen Anteil seines Gewinns in die Werbung steckte und dann abwechselnd zur Peitsche des Preiskrieges und zum Zuckerbrot attraktiver Übernahmeangebote griff – seine American Tobacco Company zum Äquivalent von Standard Oil oder Carnegie Steel aufbaute. Wie seine Monopolistenkollegen geriet er mit der Kartellbehörde in Konflikt, und 1911 ordnete der Oberste Gerichtshof die Auflösung des Unternehmens an. Das daraufhin entstehende Oligopol brachte rasch neue Marken hervor – Camel, Lucky Strike, Chesterfield und Marlborough   –, die seitdem um Marktanteile kämpfen. Für den amerikanischen Einzelhandel war die Zigarette die perfekte Ware, ein Produkt, das trotz niedriger Investitionen in Verkaufsfläche und Inventar hohe Profite eintrug; Zigaretten, schreibt Kluger, «wogen nicht viel und waren haltbar verpackt, selten verdorben und schwer zu stehlen, da sie üblicherweise hinterm Ladentisch verkauft wurden, unterlagen geringen Preisschwankungen und bedurften fast keinerlei Verkaufsanstrengung».
    Da jede Marke mehr oder weniger gleich schmeckte, lernten die Tabakfirmen schon früh, sich auf dem neuesten Stand der Werbung zu positionieren. In den zwanziger Jahren bot American Tobacco jedem Arzt, der Lucky Strike («It’s toasted») empfahl, fünf Stangen gratis und startete dann eine Kampagne mit dem Slogan: «20   679   Ärzte sagen, Luckys verursachen weniger Atemwegsirritationen»; American war auch die erste Firma, diefigurbewusste Frauen als Zielgruppe anvisierte («Wird der Appetit zu groß, greifen Sie doch zu einer Lucky»). Die Branche war Vorreiter bei der Werbung mit Prominenten (Tennisstar Bill Tilden: «Ich rauche Camel seit Jahren und finde ihren samtigen, vollen Geschmack noch immer toll»), bei der Rundfunkwerbung (Arthur Godfrey: «Ich hab täglich zwei, drei Schachteln von den Dingern [Chesterfield] geraucht – mir geht’s ziemlich gut»), bei der aggressiven Außenwerbung (die berühmteste war die «I’d Walk a Mile for a Camel»-Plakatwand am Times Square, auf der fünfundzwanzig Jahre lang riesige Rauchringe geblasen wurden) und schließlich beim Sponsoring von Fernsehshows wie
Candid Camera
und
I Love Lucy
. Die großartigen Fernsehwerbespots anzusehen, die für Philip Morris entstanden – Benson & Hedges-Raucher, deren Hundert-Millimeter-Zigaretten von Fahrstuhltüren

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