Anleitung zum Alleinsein
da sie die angebliche Unbedenklichkeit von Filterzigaretten selbst dann noch bewerben konnte, als der toxische Gehalt längst erhöht wurde, um die Wirkung des Filters auszugleichen. Ebenso erging es dem Gesetz von 1965, das Warnhinweise auf der Schachtel vorschrieb, was potentiell strengeren staatlichen und regionalen Vorschriften zuvorkam und ein unschätzbarer Schild gegen zukünftige Schadenersatzklagen war. Ebenso erging es dem 1971 vom Kongress erlassenen Verbot von Zigarettenwerbung in Funk und Fernsehen, das der Industrie nicht nur Millionen Dollar ersparte, sondern auch potentielle neue Konkurrenten, indem es ihnen die Werbeplattform verwehrte, wirkungsvoll kaltstellteund den verheerenden Anti-Raucher-Spots ein Ende machte, die zu der Zeit entsprechend der Ausgewogenheitsdoktrin gesendet wurden. Selbst eine so ungeschickte Verordnung wie die Erhöhung der Verbrauchssteuer 1982 nutzte der Industrie, indem sie die Tabaksteuer als Vorwand für eine Reihe von Preiserhöhungen nahm, die den Preis einer Schachtel innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelten, und den unverhofften Gewinn in Diversifikationen investierte. Jeder Vorstoß der Regierung zur Eindämmung des Rauchens – das Werbeverbot in Funk und Fernsehen, das Rauchverbot im Flugzeug, das Durcheinander der lokalen Rauchverbote an öffentlichen Orten – führte dazu, dass die Zigarette mehr und mehr aus dem Bewusstsein nicht rauchender Wähler zurückgedrängt wurde. Da die tabakanbauenden U S-Staaten über erheblichen politischen Einfluss verfügten, wurden Zigaretten von diversen Verordnungen ausgenommen: dem Gesetz zur verbraucherfreundlichen Etikettierung und Verpackung von 1966, dem Gesetz zur Kontrolle der Inhaltsstoffe von 1970, dem Gesetz zur Sicherheit von Verbrauchsgütern von 1972 und dem Gesetz zur Kontrolle giftiger Inhaltsstoffe von 1976. In den von der Branche erhobenen Einsprüchen in Schadenersatzprozessen zeigt sich das Paradox in seiner reinsten Form: Da kein Kläger behaupten kann, von den Gefahren des Tabaks nichts gewusst zu haben – gerade
weil
die Zigarette bekanntermaßen der für Leib und Leben gefährlichste amerikanische Konsumartikel ist –, können die Hersteller, die ihn verkaufen, nicht der Fahrlässigkeit bezichtigt werden. Wen wundert es da, dass kein Zigarettenhersteller auch nur einen Cent Schadenersatz bezahlt hat – bis der Tabakkonzern Liggett in diesem Frühjahr ausscherte.
Nun könnte die Zeit der Paradoxa zu Ende gehen. Während die Nation ihre Raketen verschrottet, wendet sie sich der Zigarette zu. Die Mauer des Schweigens, die die Branche schützte, fällt so sicher, wie die Berliner Mauer fiel. Das postindustrielle Informationszeitalter bricht an und droht, alles grundlegend Moderneauszulöschen. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass die Vereinigten Staaten, die auf dem Weg in das Informationszeitalter vorangehen, auch im Kampf gegen die Zigarette an vorderster Front stehen. Anders als die europäischen Staaten, die das Problem des Rauchens pragmatischer angegangen sind, indem sie Zigaretten mit bis zu fünf Dollar die Schachtel besteuert haben, ziehen die Gegner des Rauchens in diesem Land mit puritanischem Eifer in die Schlacht. Wir brauchen ein neues Reich des Bösen, und da kommt uns Big Tobacco gerade recht.
Wer die Tabakindustrie mit Sklavenhändlern und dem Dritten Reich gleichsetzt, argumentiert so: Weil jährlich nahezu eine halbe Million Amerikaner an unmittelbaren Folgen des Rauchens vorzeitig sterben, sind die Zigarettenhersteller des Massenmordes schuldig. Das offenkundige Problem dieser Argumentation ist, dass die Tabakindustrie niemanden gezwungen hat, Zigaretten zu rauchen. Um von der «Tötung» von Menschen zu sprechen, muss man also subtilere Formen des Zwangs postulieren. Zu nennen sind hier drei Kategorien. Erstens: Indem die Tabakindustrie eine den Wissenschaftlern wohlbekannte Wahrheit öffentlich leugnete, nämlich dass Raucher in Lebensgefahr schweben, hat sie sich zu einem gigantischen, mörderischen Betrug verschworen. Zweitens: Indem die Tabakindustrie leicht zu beeindruckende Kinder zu einer schwer aufzugebenden Angewohnheit verführte, hat sie ihre Produkte Menschen «aufgezwungen», die die volle Widerstandskraft von Erwachsenen noch nicht entwickeln konnten. Und schließlich: Indem die Tabakindustrie ein Produkt, um dessen suchterzeugende Wirkung sie wusste, verfügbar und attraktiv machte und außerdem die Nikotinwerte manipulierte, hat sie die Öffentlichkeit
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