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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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verwendet wiederholt das Wort «Engel» im Zusammenhang mit Nichtraucher-Aktivisten. In der Einleitung zu seinem Buch spricht er unumwunden von zwei Alternativen: Entweder sind die Zigarettenhersteller «grundsätzlich Geschäftsleute wie alle anderen auch», oder sie sind «moralisch Aussätzige, die die Unwissenden, die Armen, die emotional Labilen und die genetisch Vorbelasteten ausplündern».
    Mein Unbehagen an solchen Dichotomien mag die Tatsache spiegeln, dass ich, anders als Lehmann-Haupt, mir das Rauchen erst noch abgewöhnen muss. Doch in keiner nationalen Debatte empfinde ich mich weniger im Einklang mit dem Mainstream als in der. Bei allem Misstrauen, das ich gegen die amerikanische Industrie und vor allem gegen eine Industrie verspüre, die derart rigoros Kongressabgeordnete kauft, will etwas in mir beharrlich für den Tabak sein. Ich zucke zusammen, wenn ich mich zwinge, die neuesten Gesundheitsmeldungen zu lesen: STUDIE BELEGT: NEUGEBORENE VON RAUCHERINNEN MIT GRÖSSERER WAHRSCHEINLICHKEIT ZURÜCKGEBLIEBEN. Ich stürze mich auf besonders ausgesuchte Kollisionen von Metapher und Melodrama wie die folgende aus der
Times
: «Die eidesstattlichen Erklärungen sind das neueste Glied in einer Kette von Schlägen, die die frühere Aura der Unbesiegbarkeit unterminiert haben, welche die 45   Milliarden Dollar schwere Tabakindustrie umgab, die nun einer Flut von Klagen entgegensieht.» Meine Sympathie mit den Kohorten, die unverhältnismäßig viel rauchen – Fabrikarbeiter, Afroamerikaner, Schriftsteller und Künstler, entfremdete Teenager, Geisteskranke   –, erstreckt sich auch auf die Unternehmen, die sie mit Zigaretten versorgen. Ich denke: Jetzt sind wir alle Underdogs. Kriegszeiten sind Lügenzeiten, sage ich mir, und die größte Lüge im Zigarettenkrieg ist, dass die moralische Gleichung auf Einsen und Nullen reduziert werden kann. Oder bin auch ich von dem Kraut korrumpiert?
     
    Ich begann zu rauchen , als ich in den dunklen Jahren der frühen Achtziger in Deutschland studierte. Kurz zuvor hatte Ronald Reagan seine Rede vom «Reich des Bösen» gehalten, und Jonathan Schell brachte
Das Schicksal der Erde
heraus. In Berlin hieß es, dass man sich, wenn man samstagmorgens in einer unzerstörten Welt aufwache, wieder eine Woche in Sicherheit wiegen könne, denn man ging davon aus, dass die NATO freitagabends am verschlafensten war und die Streitkräfte des Warschauer Pakts also diese Stunden wählen würden, um durch die Fuldaer Lücke vorzustoßen, worauf die NATO sie mit einem Wahnsinnsschlag würde zurückwerfen müssen. Da meine Chancen, dieses Jahrzehnt zu überleben, schätzte ich, bei fünfzig zu fünfzig lagen, erschien mir das zusätzliche Risiko, das sich aus dem Rauchen ergab, vernachlässigenswert. Tatsächlich hatten Zigaretten sogar etwas einladend Apokalyptisches. Der Albtraum sich ausbreitender Nuklearwaffen hatte seine Entsprechung in der Art und Weise, wie Zigaretten – anonyme, todbringende, geschossartige Zylinder – sich in meinem Leben ausbreiteten. Zigaretten sind ein fester Bestandteil moderner Kriegführung, des Soldaten bester Freund, und so wurde das Rauchen in einer Zeit, in der ein wahrscheinlicher Kriegsschauplatz mein Wohnzimmer war, zu einem Symbol meiner hilflosen zivilen Teilnahme am Kalten Krieg.
    Zu den Ängsten, die sich durch Zigaretten eindämmen lassen, gehört paradoxerweise die Angst vorm Sterben. Welcher starke Raucher hat nicht schon mal beim Gedanken an Lungenkrebs den Panikschwall verspürt und sich sofort eine Zigarette angesteckt, um die Panik zu bekämpfen? (Das ist eine Logik des Kalten Kriegs: Wir haben Angst vor Atomwaffen, also bauen wir noch mehr davon.) Mit dem Tod wird die Verbindung zwischen Ich und Welt durchtrennt, und da das Ich sich seine Nichtexistenz nicht vorstellen kann, ist vielleicht das eigentlich Beängstigende an der Aussicht aufs Sterben nicht die Auslöschung des eigenen Bewusstseins, sondern die Auslöschung der Welt. Die Angst voreinem globalen nuklearen Holocaust war daher funktional identisch mit meiner privaten Todesangst. Und die potentiell todbringende Wirkung von Zigaretten war tröstlich, weil sie mir erlaubte, mit der Apokalypse vertraut zu werden, mir die Konturen ihrer Schrecken vorstellen zu können, das potentielle Ende der Welt weniger fremd und mithin ein bisschen weniger bedrohlich zu finden. Für die Dauer einer Zigarette bleibt die Zeit stehen: Wenn man raucht, ist man sich selbst sehr gegenwärtig; man

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