Anleitung zum Müßiggang
gelesen werden und eine starke Wirkung haben. Der waagerechte Müßiggänger, im Bett um 10 Uhr morgens, hat die Zeit dafür.
»Ich kann mir vorstellen«, schrieb Keats, damals gerade 23 Jahre alt, »dass ein Mensch auf folgende Weise sein Leben sehr angenehm verbringen könnte – wenn er zum Beispiel an einem Tag eine Seite vollkommener Poesie oder verdichteter Prosa liest und darüber nachsinnt und sich in seinen Gedanken damit beschäftigt und darüber nachdenkt und sich alles eindringlich ausmalt und sich in Ahnungen darüber ergeht und davon träumt ... Welch ein Glück ist doch so eine ›Reise in der Fantasie‹, welch köstliches, emsiges Nichtstun!«
Und was für eine Genialität von Keats, so eine hinreißende Wendung wie »köstliches, emsiges Nichtstun« zu prägen, die so präzise und elegant die paradoxen Freuden produktiver Inaktivität auf den Punkt bringt. Im ganzen Brief beteuert Keats immer wieder die Vornehmheit des Nichtstuns. »Nun ist es vornehmer, stillzusitzen wie Jupiter, als herumzufliegen wie Merkur – drum lasst uns nicht hastig ausfliegen, Honig zu sammeln, bienengleich hier und da herumschwirren, voll Ungeduld im Wissen um einen Zweck; lasst uns vielmehr wie eine Blume unsere Blütenblätter öffnen und passiv und empfänglich sein.«
Wie viel besser wäre das Leben, wenn wir den Tag mit einem Gedicht beginnen würden statt mit dem hohlen Geschwafel der Zeitungen, mit ihrer Diät aus Angst, Hass, Neid und Eifersucht. Zeitungen sind lediglich eine destruktive Ablenkung vom Ich, ähnlich wie Seifenopern. Der Autor Marcel Theroux sagte letztes Jahr im Januar zu mir: »Ich bin dies Jahr in sehr guter Stimmung, und ich schreibe das allein der Tatsache zu, dass ich schon seit neun Tagen nicht mehr den Daily Telegraph gelesen habe.«
Kannst du dir vorstellen, stattdessen über ein paar Zeilen aus Keats »An Ode to Indolence« (1819) nachzudenken? Um dir die Mühe zu ersparen, das Gedicht zu suchen, zitiere ich hier drei Zeilen:
O, eine Zeit, vor Plagen so geschützt,
Ich wüsste, wie die Monde wechseln, nicht
Und wäre taub für rege Nüchternheit!
Untätigkeit ist vornehm; Handeln ist etwas für Verlierer. Lies, wie Oscar Wilde in seinem Essay »The Critic as Artist« (1890) das »Handeln« als Ideal attackiert:
Handeln ... die Zuflucht jener, die sonst keine Aufgabe haben ... Es beruht auf Fantasiemangel. Es ist der letzte Ausweg derer, die nicht zu träumen verstehen ... Alles Tun ist begrenzt und relativ. Unbegrenzt und absolut ist die Schau dessen, der ruht und beobachtet, der in der Einsamkeit wandelt und träumt ...
... so völlig beherrscht die Tyrannei dieses schrecklichen gesellschaftlichen Ideals die Menschen, dass sie einen in Privatzirkeln und an anderen allgemein zugänglichen Orten mit lauter Stentorstimme fragen: »Was treibst du?«, während doch die Frage: »Was denkst du?« die einzige ist, die ein zivilisiertes Wesen je einem andern zuflüstern dürfte ... Kontemplation gilt in den Augen der Gesellschaft als schwerste Sünde, in den Augen der Höchstkultivierten ist sie die einzige menschenwürdige Beschäftigung ... Gestatte mir nun die Bemerkung: Gar nichts zu tun, das ist die allerschwierigste Beschäftigung auf dieser Welt, die schwierigste und die intellektuellste ... Um nichts zu tun, lebt der Auserwählte.
Das kontemplative Leben, jenes Leben, das sich nicht das Handeln , sondern das Sein , und nicht nur das Sein , sondern das Werden zum Ziel gesetzt hat – das ist es, was der kritische Geist uns geben kann. Die Götter leben so ...
In dieser Passage erhebt Wilde den Müßiggänger vom Status einer bedauernswerten Last der Gesellschaft, eines nutzlosen, irrationalen Ärgernisses zu etwas Göttlichem. Alles andere als eine Last, sind Müßiggänger in Wirklichkeit eine Elite, Auserwählte. Sie sind Apostel, Visionäre. Sie sehen klarer als der Rest; sie haben es abgelehnt, sich durch die Sitten und Gebräuche der anderen schikanieren zu lassen; ihre Augen sind weit offen, sie haben Zeit erschaffen.
Werde zum Menschen; werde allumfassend in deiner Erkenntnis; werde gottähnlicher; bleibe im Bett.
11 UHR VORMITTAGS
Bummeln zum Vergnügen und Gewinn
Er schaute hinauf zu seiner Uhr, die vor ein paar Wochen um fünf Minuten vor elf stehen geblieben war. »Fast elf Uhr«, sagte Pooh erfreut. »Du kommst gerade rechtzeitig, um mit mir ein bisschen was zu schnabulieren.«
A. A. Milne, The House At Pooh Corner (1928)
Meistens sah man ihn am Eingang zum
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