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Anleitung zum Müßiggang

Anleitung zum Müßiggang

Titel: Anleitung zum Müßiggang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hodgkinson
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effizienten Martini als ersten Drink des Tages in der Playboy -Welt vor als den Rum-Traum der Tiki-Welt. So wie das frisch industrialisierte Paris des späten neunzehnten Jahrhunderts den Absinth zur Entspannung benötigte, so brauchten New York und andere Städte der USA in den fünfziger und sechziger Jahren den Martini. Das dreieckige Martiniglas mit seiner einzelnen Olive wurde zum Symbol der Epoche. »Wenn dieser erste Martini auf die Leber trifft wie eine silberne Pistolenkugel«, schrieb ein zeitgenössischer Witzbold, »stößt man einen zufriedenen Seufzer aus, der noch in Dubuque zu hören ist.« Die Welt des Martini ist Teil einer vergangenen Ära der Eleganz; es ist die Zeit von The Sweet Smell of Success, Grand Hotel , Holly Golightly, Cary Grant und Frank Sinatra.
    Ich selbst bin etwas ruhiger geworden und befinde mich in der seltsamen Lage, die Cocktails zugunsten des echten Ale aufgegeben zu haben. Schlimmer noch, ich habe mir gerade eine Heimbrauanlage bestellt. Das gehört alles zu meinem Experiment, wie in vorindustrieller Zeit zu leben. Der Cocktail ist sicher ein Ergebnis der Kultur der harten Arbeit: Extreme Plackerei braucht einen extremen Drink, um das Elend zu kompensieren. In einem Leben, in dem Arbeit und Spiel enger vermischt sind, dem echten Müßiggängerleben, ist vielleicht nur ein leichteres Gebräu vonnöten. Ich nehme an, wenn wir alle glücklich wären, gäbe es vielleicht überhaupt kein Bedürfnis nach Drinks, aber ein Leben ohne Alkohol scheint mir auch eine ziemlich erbärmliche Aussicht zu sein.

7 UHR ABENDS
    Über das Angeln
    Mit meiner seidenen Leine und dem zierlichen Haken wandere ich in einer Myriade kleiner Wellen Und finde Freiheit
    Li Yu , »Lied des Fischers«, etwa 10. Jahrhundert
    In der Kathedrale von Winchester gibt es ein Buntglasfenster, das einen Mann darstellt, der im Schatten eines Baumes sitzt. Er trägt einen schwarzen Zylinder und kniehohe Stiefel, sein schulterlanges Haar ist weiß. Mit seiner rechten Hand stützt er sein Kinn, und in der linken hält er ein Buch. Zu seinen Füßen sehen wir einen Weidenkorb, ein Netz und eine Angelrute. Im Hintergrund schlängelt sich ein Fluss in die Ferne. Bäume säumen ihn, und ein Hügel erhebt sich hinter seinen Ufern. Am Fuß dieser idyllischen Darstellung einer Mußestunde am Fluss befindet sich eine Inschrift, die lautet: »Study to be quiet« – Lerne still zu sein.
    Der Mann in dieser lässigen Haltung ist Sir Izaak Walton, ein Autor des siebzehnten Jahrhunderts, der im Jahr 1653 The Compleat Angler, or the Contemplative Man’s Recreation veröffentlichte. The Compleat Angler ist ein Anglerhandbuch, zugleich aber auch ein philosophisches Werk, eine Rechtfertigung des Angelns als edles Gewerbe und eine Verherrlichung der heiteren Gelassenheit und der vita contemplativa. Es ist eines der meistgekauften Bücher, die die Welt je erlebt hat, wahrscheinlich nur von der Bibel übertroffen, und der Dichter, Dramatiker und Sekretär der East India Company Charles Lamb empfahl es seinem Freund Coleridge mit den folgenden glühenden Worten:
    Es atmet den puren Geist der Unschuld, Reinheit und Schlichtheit des Herzens. Es stimmt die Laune eines Menschen milder zu jeder Zeit, wenn er es liest; es christianisiert jede stürmische, misstönende Leidenschaft; bitte macht Euch mit ihm bekannt.
    Lamb hatte absolut Recht, selbst heute tritt man durch die Lektüre von The Compleat Angler in eine wunderbare Welt des Friedens und der Gelassenheit ein. Seinen christlichen Charakter aber derart zu betonen, heißt es frömmer zu machen, als es wirklich ist. Denn Waltons Welt ist auch mit herzhaften Freuden angefüllt. Man findet rosenwangige Milchmädchen, die im Wald Balladen singen, Besuche in der Bierschenke (wo Walton ebenso viel Zeit zuzubringen scheint wie am Fluss) und langsam in Weißwein gesottene Forellen. Aber es bietet nicht nur Eskapismus oder einfach einen amüsanten Einblick in das vorindustrielle Leben: seine Wahrheiten und seine Weisheit bleiben einem im Gedächtnis. Es ist kräftiger Lesestoff, nicht bloß unterhaltsame Lektüre.
    Was The Compleat Angler beweist, ist etwas, was ich schon lange vermutet hatte: dass Angeln eine grandiose Möglichkeit ist, nichts zu tun. Es legitimiert das Nichtstun. Obwohl ich selber kein großer Angler bin und nur wenige Male angeln war, ist mir immer klar gewesen, dass Angeln der Müßiggängersport par excellence ist. Klar, es steckt eine Absicht dahinter (einen Fisch zu fangen),

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