Ann Kathrin Klaasen 08 - Ostfriesenfeuer
Michi! Der Michi hat zugestochen! Pik und ich haben noch versucht, ihn daran zu hindern, aber der Michi war’s. Deshalb ist der dann auch ins Krankenhaus gegangen, um ihm den Rest zu geben.«
Weller atmete tief aus. Genau so hatte er sich das vorgestellt.
Pik saß nebenan und weigerte sich hartnäckig, etwas zu sagen. Er wollte seinen Anwalt sprechen. Nicht irgendeinen Pflichtverteidiger, sondern seinen Anwalt, den er
den Harry
nannte und der in Polizeikreisen als
die alte Schniefnase
bekannt war, weil sich in seiner Schnupftabakdose, aus der er sich in den Prozesspausen gerne eine Prise zog, schon seit langem kein Schnupftabak mehr befand.
Als Ann Kathrin in den Distelkamp zurückkam, war es draußen windig und dunkel. Der Nieselregen ließ den Straßenbelag glänzen. Möwen zankten sich um einen aufgeplatzten Plastikmüllsack, in dem Pizzareste lockten.
Aus den Fenstern ihres Hauses fiel warmes Licht in den Vorgarten. Sie konnte Weller am Herd sehen.
Schon im Vorraum roch es nach frisch geröstetem Weißbrot und geschmorten Zwiebeln. Weller machte seine berühmte Fischsuppe und löschte gerade das Gemüse mit Weißwein ab, als Ann Kathrin die Küche betrat.
Er wirkte aufgekratzt und – völlig anders, als sie erwartet hatte – gutgelaunt. Sie wusste, wie schwer die Attacke auf Ubbo Heide ihn getroffen hatte. Der Gedanke, eines Tages ohne diesen gütigen, klugen Übervater auskommen zu müssen, erschreckte nicht nur ihn und war nun zu einer nicht mehr zu leugnenden Realität geworden. Es war nicht wegzudiskutieren: Über kurz oder lang würde Ubbo pensioniert werden, und irgendjemand musste ihn ersetzen.
Ann Kathrin wusste, dass ein paar Kollegen ihr diese Rolle am ehesten zutrauten, aber sie selbst wies den Gedanken weit von sich. Ihrer Meinung nach hätte alles ruhig noch ein paar Jahre so weitergehen können. Ubbo leitete die Abteilung, und im Grunde lief doch alles ganz gut … Ja, bis zu diesem Messerangriff. Eine drohende Pensionierung ließ sich vielleicht hinausschieben. Eine Dienstunfähigkeit nicht.
»In einer halben Stunde können wir essen, Ann«, freute Weller sich und gab ihr einen Begrüßungskuss. »Wenn du sehr hungrig bist, schon in zwanzig Minuten.«
»Was ist los mit dir? Du bist so … so …« Sie rang um den richtigen Ausdruck.
»Wir haben die Jungs an den Hammelbeinen … die unseren Ubbo …«. Er sprach nicht weiter, zog sie aber ins Wohnzimmer und zeigte ihr sein iPad.
»Schau mal, was uns die Kollegen aus Mallorca geschickt haben. Unser Rupert, voll im Einsatz, macht der ostfriesischen Polizei mal wieder alle Ehre!«
Fassungslos betrachtete Ann Kathrin den Bildschirm.
»Was … Was macht der da?«
»Er signiert Touristinnenbusen«, sagte Weller trocken, als wäre dies eine alltägliche Selbstverständlichkeit für jeden Polizeibeamten.
Als wäre es nicht schon schlimm genug für Rupert, eine Nacht in der Zelle verbringen zu müssen, statt in seinem Hotelzimmer oder im Bierkönig, bekam er jetzt auch noch einen Zellengenossen. Der Mann war zwanzig Jahre jünger als Rupert, kam aus Dortmund und war ziemlich betrunken. Er rülpste und furzte und schimpfte, und Rupert befürchtete, der Neue könne sich gleich übergeben. Genau das geschah auch nach wenigen Minuten.
Anschließend hämmerte der Mann gegen die Tür und forderte, freigelassen zu werden. Er drohte, alle zu verklagen und brotlos zu machen.
Rupert schimpfte: »Leg dich endlich hin und sei ruhig!«
Daraufhin griff der Dortmunder, froh, ein Ventil für seinen Frust zu haben, Rupert an. Beherzt griff Rupert zu und brachte den tobenden Mann rasch unter Kontrolle. Er presste ihn auf den Boden und verrenkte seinen Arm nach hinten.
»Typen wie dich sperren wir in Ostfriesland ganz schnell ein«, grunzte Rupert.
»Die haben mich doch schon eingesperrt, und dich auch, du Pfeife! Oder glaubst du, das hier ist die Champagnerbar vom Hilton?«, stöhnte der Dortmunder.
Es gab nur eine wirkliche Schwierigkeit: Er musste Michaela Warfsmann in seine Gewalt bringen und unbemerkt in seine Ferienwohnung. Dann konnte er ganz in Ruhe ihre Befragung und ihre Auslöschung beginnen.
Er wollte ihr vor ihrem Tod die Möglichkeit geben, sich auszusprechen und zu bereuen.
Er sah sie innerlich schon vor sich auf dem Büßerstuhl sitzen. Er würde einen dieser Küchenstühle nehmen, aber vorher das Sitzpolster herausschneiden. Sie sollte es nicht zu gemütlich haben. Ein Nagelkissen wäre ohne jede Frage die passende
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