Ann Kathrin Klaasen 08 - Ostfriesenfeuer
einmal fähig, ihm in die Augen zu sehen.
Hatte er das alles genau so geplant?
Selbst jetzt diese Situation?
Hatte er sich vorher auf diesen Stuhl gesetzt und den Spiegel dann genau so platziert?
Gab es für all das hier ein klares Drehbuch mit Handlungsanweisungen?
War das alles inszeniert?
War sie das Zufallsopfer eines Irren, oder hatte er sie gezielt ausgesucht?
Sie wusste nicht, was ihr mehr Furcht einflößte. Es kam ihr zunehmend so vor, als hätte sie es mit einem bestens organisierten, planenden Täter zu tun, der genau wusste, was er wollte. Er war nicht einfach auf rasche Lustbefriedigung aus. Er hatte ein Ziel und tat alles, um es zu erreichen.
»Es ist bestimmt kein angenehmes Gefühl, so festzukleben wie du jetzt. Aber sosehr ich es bedaure, du hast mir keine andere Wahl gelassen. Ich werde dir gleich diesen Knebel vom Mund nehmen, damit wir reden können … Aber wenn du wieder Schwierigkeiten machst, herumbrüllst, um Hilfe schreist oder so, dann werde ich dieses Isolierband nicht mehr verwenden. Glaub mir, auch wenn du es jetzt wenig komfortabel findest, bald wirst du dich danach zurücksehnen, denn wenn du auch nur einen Tick zu laut sprichst, klebe ich dir deine Lippen zusammen. Ich habe noch genug von dem Zeug. Das ist so stark, damit könnte ich …«
Er berührte von hinten mit den Fingern ihren Kopf und kratzte darüber, als sei dort etwas, das entfernt werden müsste. Ein Schauer lief durch ihren Körper.
»Ich könnte dich mit deiner Glatze da oben an die Decke kleben. Glaub mir. Zwei, drei Tropfen halten mehrere Zentner. Du würdest frei an der Decke baumeln, sofern deine Haut nicht reißt. Aber keine Sorge, ich will das nicht tun. Ich möchte nur, dass du um die Möglichkeit weißt, wenn ich jetzt deine Lippen befreie. Das erste Wort, das ich von dir hören möchte, heißt Danke.«
Sie schloss die Augen und erwartete einen Schmerz, aber er riss das schwarze Isolierband nicht einfach ab. Er löste es geradezu liebevoll vorsichtig, so wie früher ihre Mama ihr Pflaster von den Knien gezogen hatte.
Seine Finger waren kalt wie der Tod, aber gleichzeitig sanft. Er zupfte Klebstoffreste von ihrer Oberlippe.
Sie sog gierig Luft ein.
»Was wollen Sie von mir? Warum tun Sie das? Ich habe eine kleine Tochter … ich …«
Ihre Stimme kam ihr nicht nur fremd vor, sondern unangenehm, wie die Stimme eines Menschen, auf dessen Freundschaft man nur zu gerne verzichtet. Schrill. Entnervt. Wie kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
Er drückte von hinten seine mit Isolierband umwickelte Fingerspitze fest gegen ihren Kopf, als hätte er vor, seine Nägel durch ihre Schädeldecke zu bohren. Er schwankte ständig zwischen fast zärtlicher Fürsorge und ausbrechender Aggressivität. Schmerzblitze jagten durch ihren Körper.
»Welches Wort wollte ich als erstes von dir hören?«
»Danke«, sagte sie.
Für einige Sekunden ließ der Druck seiner Finger auf ihren Kopf nach.
Seine Stimme hörte sich an wie aus einer anderen Welt. Auf böse Art sakral. Hier sprach ein strafender, zorniger Gott. Und er war verdammt zornig.
»Ines Küppers ist tot.«
»Ich weiß«, antwortete sie. »Sie hat sich umgebracht. Ihr war auf dieser Welt nicht zu helfen.«
Der Druck seiner Finger wurde sofort stärker. Sie fürchtete, gleich könnte ihr Kopf einfach
Knack
machen und seine Finger würden in ihr Gehirn eindringen.
Sie sprach ganz schnell, um ihn zu stoppen. »Sie war ein schwieriger Mensch. Manisch depressiv. Ich habe ja versucht, ihr zu helfen. Ich habe sie sogar aufgenommen. Ihr Arbeit gegeben! Eine Aufgabe! Aber sie … sie kam einfach nicht klar mit der Welt. Sie hätte eine Therapie gebraucht …«
Er legte seine Hände jetzt auf ihren Kopf und streichelte ihn. Da war ein kühlender Windzug, und dann klatschte es ein paarmal gegen ihren Kopf. Es waren Ohrfeigen von hinten. Aber nicht sehr schmerzhaft. Sie fühlten sich eher an wie ein Tadel.
Wenn du noch einmal lügst, wird es schlimmer.
Hatte sie sich das jetzt selbst gesagt, oder war es von ihm gekommen?
Dann spürte sie zunächst seinen Atem an ihrem Ohr. Er flüsterte seine Sätze wie ein schwer gehütetes Geheimnis über den inneren Zusammenhang der Welt.
»Bevor man die Diagnose
Depressiv
annimmt und zum Therapeuten rennt oder Psychopharmaka nimmt, sollte man erst genau hinsehen und sich davon überzeugen, ob man nicht einfach umgeben ist von kleinkarierten Arschlöchern, die einen fertigmachen wollen … Vielleicht sieht man die Welt
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