Ann Pearlman
Wir anderen umarmen Rachel.
»Ich hab eine Idee«, sagt Allie. »Wir könnten uns alle deinen Daddy vorstellen, ihm in Gedanken Bilder von diesem wunderschönen Ort schicken und spüren, wie glücklich er wäre, dass wir alle zusammen hier sind und uns daran freuen.«
»Mommy!«, ruft Rachel.
Sky dreht sich um und kommt zu uns, die Hände schlaff herunterhängend, aber Rachel zieht sie in unsere Grüppchen am Rand der Klippe. Wir halten uns an den Händen, und ich denke, wie eindrucksvoll die Natur ist. Wie viel Glück wir haben, auf diesem Planeten zu leben, trotz Troys tragischem Tod. Als wir die Hände wieder sinken lassen, sage ich: »Rachel und Levy, ihr seid ein Wunder. Wir alle. Und dieser Ort.« Dann merke ich, wie sentimental und schmalzig ich mich anhöre, überwältigt und hingerissen von der herrlichen Natur und dem Chaos der letzten Wochen. Als wäre der Grand Canyon mein Zufluchtsort.
Sky schweigt. Dann dreht sie sich schweigend um, schlurft weiter den Weg hinunter, die Augen starr auf die Steine gerichtet, die vor ihr auf dem Weg liegen.
6
Die ganze Nacht
Sky
E igentlich kann ich das ganze Theater um den Grand Canyon nicht verstehen. Er ist doch bloß ein großes Loch im Boden. Nicht spektakulärer als die Berge oder die Wolken, die wir für selbstverständlich nehmen. Der Canyon ändert nichts daran, wie ich mich fühle. Er lenkt mich nicht ab. Wenn Troy bei mir wäre, würde er mit uns bis ganz nach unten gehen und mit dem Maultier wieder nach oben reiten. Früher einmal, vor langer Zeit, hätte das sicher viel Spaß gemacht.
Nach dem Grand Canyon kommen wir wieder auf die Interstate 40. Noch zweihundertachtzig Meilen bis Albuquerque. Unterwegs sieht man überall Hinweise auf die Route 66, während wir über die staubige Erde an Flagstaff vorbei nach Winslow fahren und uns dort ein Motel suchen. Na ja, Tara und die Rap-Crew machen noch einen Hubschrauber-Rundflug über den Canyon. Allie, ich, Levy und Rachel bleiben im Motel.
Inzwischen ist Troy fast einen Monat tot. Übermorgen ist es genau einen Monat her. Einen ganzen Monat. Es kommt mir vor wie gestern. Und gleichzeitig wie eine Ewigkeit. Ich weiß, dass es einen Monat her ist, weil ich das Datum auf meinem Handy gesehen habe.
»Kannst du dich um Levy kümmern, Allie?«, fragt Tara. Mich ignoriert sie. Aber in Wahrheit bin ich froh, dass keiner viel von mir erwartet.
Zwar ist Herbst, aber warm genug, um schwimmen zu gehen. Rachel hat ihren Badeanzug an, ich habe die Schwimmflügel dabei. Na ja, vermutlich hat Tara sie eingepackt, oder Mom, falls wir unterwegs in einem Motel die Gelegenheit haben zu baden. Erst sind wir allein, dann erscheint eine Frau mit zwei Kindern.
»Hey, Mom«, ruft das Mädchen, vermutlich ihre Tochter. »Warte mal!«
Die Frau hat ein paar Handtücher unter dem Arm, an einem Finger hängt ein Eimerchen. Ein ungefähr fünfjähriger Junge schleppt in jeder Hand einen Truck, am Arm des Mädchens schaukelt ein knallroter Schwimmring mit einem Seepferdchenkopf. Die Haare der Frau haben sich aus der Spange gelöst und flattern im Wind. Immer wieder wirft sie den Kopf zurück, weil sie ihr in die Augen fliegen, aber der Wind ist hartnäckig.
Die Frau zieht drei Stühle um einen Tisch und lässt eine lila Tragetasche auf einen davon plumpsen.
»Wann gibt’s Essen?«, nölt das Mädchen, das schätzungsweise acht oder neun ist.
»Nimm dir einen Apfel, Molly. Die sind in der Papiertüte«, erwidert die Mutter und zeigt auf die Tasche. Molly holt sich einen Apfel und beißt hinein. Dann legt sie ihn weg und springt ins Wasser. Der Junge schiebt seine Trucks auf dem Mulchstreifen neben den Fleißigen Lieschen. Levy gesellt sich zu ihm.
Allie fängt ein Gespräch mit der Mutter an. Sie heißt Brooke und hat in Lansing als Kunstlehrerin gearbeitet. Als sie ihre Stelle verloren hat, ist sie auf die Idee verfallen zu reisen. Allie und sie machen viel Wind um die Tatsache, dass wir alle aus Michigan kommen und dass Brooke an der University of Ann Arbor studiert hat. Sie unterhalten sich über die Restaurants beim Diag und die Parks in der City, als wäre alles ein unglaublicher Zufall, das Kleine-Welt-Phänomen. Blablabla. Im Vergleich mit den unwahrscheinlichen Vorkommnissen in meinem Leben ist das alles gar nichts. Als Brooke fragt, was wir hier machen, erklärt Allie ihr, dass Rachel und ich umziehen und die anderen mir helfen.
Brooke nickt, als würde sie das genau verstehen. Sie und ihre Kinder haben sich gerade
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