Ann Pearlman
es ist schon über ein Jahr her. Ich hab ja nicht mal mehr allein mit einem Mann geredet .«
Auf einmal erzählen wir uns ganz offen von unserem Leben. Wahrscheinlich, weil wir uns nicht kennen und beide nicht recht wissen, was eigentlich passiert ist. So viele Möglichkeiten, wie man aus der Bahn geworfen werden kann. So viele Möglichkeiten, aus der Normalität herauszufallen.
»Es ist also erst ein Jahr her, dass er weggegangen ist«, sage ich.
»Schon ein ganzes Jahr, und ich hab mich noch nicht mal mit einem Mann unterhalten «, flüstert sie. »Früher hab ich immer gern Sex gehabt. Ach was, ich liebe Sex.«
»Ich auch.« An Sex hab ich nicht mal gedacht, ehe Brooke das Thema erwähnt hat. »Ich war noch nie mit einem anderen Mann zusammen. Ob das jemals passieren wird?«
Es kommt immer anders, als man denkt. Immer. Ich weiß nicht, ob ich das laut gesagt habe, bis Brooke antwortet: »Ja. Manchmal kommt es besser. Zum Beispiel bin ich echt gern Mutter – es macht mir viel mehr Spaß, als ich es je für möglich gehalten hätte.«
Das Wasser glitzert wie Diamanten im Schnee. Das habe ich noch nie gesehen. Oder vielleicht doch, ich hab es nur nicht wahrgenommen. Ich forsche in meinem Gedächtnis, und auf einmal erinnere ich mich. Ich habe das Glitzern schon vor langer Zeit bemerkt, wenn ich Troy beim Springen zugeschaut habe.
»Als ich ein kleines Mädchen war, ist mein Dad mit mir zu seiner Hütte auf die Upper Penninsula gefahren, in die Nähe von Tahquamenon Falls. Eine ziemlich primitive Hütte, kaum besser als ein Zelt. Kein Licht, nur ein Holzofen. Im Herbst ist er mit seinen Freunden in der Gegend auf die Jagd gegangen und im Frühling mit mir zum Angeln.« Brooke nippt an einer Dose Cola Light und reicht mir auch eine.
»Wenn wir da oben waren, hat mein Dad immer gesagt: ›Brookey, das hier ist mein Traum. Siehst du den Wald, siehst du den See, siehst du das alles? Stell dir hier mal ein paar Ferienhäuschen vor. Stell dir vor, dann kommen die Leute hierher zu Brookes Lakeside Resort.‹« Brooke kaut auf der Unterlippe. »An einem Tag im Frühling hatte ich mich gerade angezogen, als mein Dad vom Beladen seines Boots zurückkam und plötzlich zwei Männer bei sich hatte, die ich nicht kannte. Ich dachte, es wären Freunde von ihm. Ich muss ungefähr so alt gewesen sein wie Molly.« Sie schaudert.
»Was wollten die Männer?«
»Sie haben uns nichts getan. Mein Vater hat unser Essen mit ihnen geteilt … Hotdogs und Kartoffelchips und Cheerios. Der eine, ein Kerl mit einem dicken Bierbauch und einer Zahnlücke, hat mit mir Quartett gespielt. Ich hab gewonnen, und sein Freund fing an, ihn zu veräppeln. ›Du lässt dich von einem kleinen Mädchen schlagen, Tiger? Von so 'ner winzigen Göre?‹ Natürlich hat Tiger sich verteidigt. ›Ach, halt die Klappe‹, hat er den anderen angeschnauzt und ist aufgestanden. Weil er ein ganzes Stück größer war als der andere, hielt der vorsichtshalber den Mund. Es kam mir alles ganz … ganz … hmmm.« Brooke stockt und hat Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. »Es kam mir schon komisch vor, aber nicht gefährlich oder so. Mein Vater war irgendwie nervös, und ich hab ihn immer wieder genervt, weil wir nicht zum Angeln gefahren sind und mir langweilig war. Den ganzen Tag hockten wir in der düsteren Hütte. In der Nacht hab ich bei meinem Vater geschlafen und die beiden Fremden im größeren Bett. Und am nächsten Tag hat mein Dad sie zu einer Tankstelle gefahren, hat das Auto vollgetankt und den Männern sein ganzes restliches Geld gegeben. Ein anderes Auto mit einem Mann und zwei Frauen hat schon auf die beiden gewartet.« Brooke verstummt.
»Was ist dann passiert?«
»Nichts. Wir sind nach Hause gefahren.« Brooke lässt den Kopf sinken und holt tief Luft. »Aber danach war Schluss mit den Ausflügen zur Hütte. Meiner Mom hat es sowieso nie gefallen, und schließlich hat mein Vater die Hütte verkauft. Er und Mom haben am Rand von Paw Paw ein neues Haus gebaut, und da wohnen sie noch heute.«
»Wer waren die Männer?«
»Ich glaube, sie waren aus dem Gefängnis ausgebrochen … und haben ein Versteck gesucht. Erst als ich im Teenageralter war, hat Dad mir verraten, was eigentlich los war. Dass die Kerle ihn mit einer Pistole bedroht haben. Aber die hab ich nie gesehen. Einer hatte eine Waffe in der Tasche, der andere eine im Hosenbund. Ich denke, mein Dad hat es mir erzählt, um mir klarzumachen, wie gefährlich die Welt
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