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Ann Pearlman

Ann Pearlman

Titel: Ann Pearlman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apfelblüten im August
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»Das war kein Wer, sondern ein Was, nämlich der Fluss. Vor langer, langer Zeit war er hier oben, da, wo wir jetzt sind, aber er hat sich immer tiefer und tiefer in den Stein eingegraben, bis ganz nach da unten.« Wieder zeige ich hinab auf den Grund des Canyon.
    Vorsichtig späht Levy über den Rand, ich halte ihn fest an der Hand. Dann runzelt er die Stirn und fragt: »Echt?« Als wollte ich ihm einen Bären aufbinden.
    Von hier oben sieht der Colorado River aus wie ein Bach, ganz bestimmt nicht stark genug, um sich in den Fels zu graben. Manchmal ist die Wahrheit weniger leicht zu glauben als die Fiktion.
    »Der Stein ist hier ziemlich weich«, versuche ich zu erklären. »Und wir sind so weit weg, dass der Fluss viel kleiner aussieht, als er ist.«
    Wir staunen beide.
    Levy hebt einen Stein auf. »Schau mal, er hat Pünktchen«, stellt er fest und gibt ihn mir, damit ich ihn mir anschauen kann. Der Stein ist eiförmig, grau mit weißen Flecken. Ich gebe ihn Levy zurück. Seit einiger Zeit sammelt er Steine. Der herzförmige vom Strand, ein grüner, den er in der Nähe des Metallmanns gefunden hat und der auf einer Seite ganz glatt ist. Und jetzt dieser hier.
    »Du sammelst Souvenirs von unserer Reise.«
    »Was sind Souvenirs?«
    »Dinge, die einem helfen, sich zu erinnern, weil sie an einen bestimmten Ort gehören«, erkläre ich ihm.
    Dann tauchen Rachel, Sky und Allie auf. Als Erste entdecke ich Rachel. Sie hat eine blaue L. A.-Baseballkappe auf dem Kopf und eine winzige Sonnenbrille auf der Nase. Heute hat Sky offenbar zum ersten Mal wieder darauf geachtet, was ihre Tochter anhat, Rachel sieht sehr süß aus. Dann wird mir klar, dass auch Allie für das Outfit verantwortlich sein könnte. Rachel kommt zu uns gerannt und nimmt die Brille ab, anscheinend stört sie sie. Als sie den Canyon sieht, die steilen Felsen und die Schlucht so tief dort unten, macht sie große Augen.
    Sky wandert den Pfad am Rand des Abgrunds entlang, sieht auf ihre Füße und nimmt weder die Aussicht noch uns zur Kenntnis. Sie sagt nicht mal Hallo. Ich gehe zu ihr und nehme sie in den Arm. »Wie geht es dir?«, frage ich sie sanft und extra liebevoll.
    Eigentlich müsste ihr klar sein, dass wir alle da sind, um ihr zu helfen, aber es ist, als würde sie Stimmen hören, die wir nicht hören, und betrachtet die Welt durch halb geschlossene, zusammengekniffene Augen. Sie reagiert nicht. Troy ist noch nicht lange tot, aber sie ist immer noch so unbeteiligt.
    »Wie hast du letzte Nacht geschlafen?«
    »Bis 3 Uhr 42. Wie immer«, antwortet sie achselzuckend und geht weiter.
    Rachel und Levy sind bei Allie, die den Weg kennt. Wir können alle ein Stück weiter hinuntergehen, bis es für die Kinder zu eng wird, also brechen wir auf. Unter uns sehe ich Special und die Crew, die den Serpentinenweg hinunterstürmen, die Wasserflaschen in der Hand oder in der Gesäßtasche der weit geschnittenen Jeans, mit hüpfenden Schritten, ganz aufgeregt von der unbeschreiblichen Schönheit, die sie umgibt. Von ihrer urbanen Coolness ist nichts mehr zu sehen, sorglos und frei wie kleine Jungs laufen sie in den Canyon hinunter, ein wundervoller Anblick. Vor allem Aaron.
    Es ist noch früh am Tag und keine Touristensaison, so sind wir tatsächlich die einzigen Menschen hier. Unten auf dem Grund des Canyons sind ein paar Maultiere, ansonsten haben wir den Grand Canyon für uns alleine.
    Bedächtig setzen wir einen Fuß vor den anderen. Ich halte Levy an der Hand, Allie führt Rachel, und wir kommen so tief nach unten, dass wir das Gefühl haben, wirklich im Canyon zu sein, zu ihm zu gehören. Unsere übliche Erde befindet sich so weit über uns, dass für uns nur noch diese Schlucht existiert. Wir sehen nur noch die Felsen, die so sanft wirken, aber in Wirklichkeit so hart und abweisend sind.
    Allie schaut sich um und meint: »Es raubt mir jedes Mal wieder den Atem, jedes Mal ist es neu. Ich sehe mir die Fotos an, die ich gemacht habe, aber sie fangen nur einen Bruchteil ein.« Ohne Rachels Hand loszulassen, wendet sie den Kopf langsam in alle Richtungen.
    »Ich will nach Hause«, sagt Rachel plötzlich und beginnt zu weinen. »Ich will zu Daddy.«
    Levy schüttelt den Kopf und stellt sich dicht neben sie. »Ich glaube, er ist nicht mehr da.« Er sagt das nicht gemein, er stellt lediglich eine Tatsache fest, die er nach langem Nachdenken für zutreffend befunden hat.
    Allie nimmt Rachel in den Arm.
    Sky geht weiter, den Blick wieder auf ihre Schuhe gerichtet.

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