Ann Pearlman
ist.«
»Hat es gewirkt?« Auf einmal merke ich, wie flach mein Bauch ist. Ich vergesse ja auch dauernd, dass ich etwas essen muss.
»Himmel, nein«, antwortet sie stirnrunzelnd.
Ich trinke einen Schluck kalte Cola und spüre, wie mir das Zeug durch den Körper rinnt. »Warum haben Sie mir das erzählt?«
»Weil mir der Vorfall so lebhaft im Gedächtnis geblieben ist. Seit Calvin weg ist, muss ich ständig daran denken.«
»Ich dachte, vielleicht hat die Geschichte eine tiefere Bedeutung.«
»Das dachte ich auch«, meint Brooke kopfschüttelnd. »Aber ich hab sie noch nicht entdeckt. Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive ich sie betrachte, und die wechselt immer wieder. Manchmal sagt die Geschichte mir, dass andere Menschen mir nichts Schlimmes antun werden. Das dachte ich als Teenager. Manchmal sagt sie mir, dass Gefahr in seltsamen Verkleidungen auftritt, aber überall zu finden ist. Man kann sie nicht vorhersagen, aber man sollte immer auf der Hut sein. Das dachte ich, als die Kinder noch klein waren. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.« Wieder kaut sie auf der Lippe. »Vermutlich …« Sie unterbricht sich erneut. »Ich glaube, jetzt denke ich, die Geschichte will mir sagen, dass die Dinge nicht unbedingt das sind, was sie zu sein scheinen, aber manchmal doch. Wir haben nur ein Stück des Puzzles und müssen versuchen, das Leben anhand dieses Puzzleteils zu verstehen. Ich strenge mich immer wieder an, Zeichen oder Signale zu entziffern, die ich früher gar nicht wahrgenommen habe. Es muss doch irgendwelche Hinweise darauf gegeben haben, dass Calvin uns verlassen würde.« Sie schüttelt den Kopf und fügt flüsternd hinzu: »Himmel, ich wusste ja nicht mal, dass er unglücklich war.«
»Ich habe den Keim, der Troy umgebracht hat, nach Hause eingeschleppt, als ich meine Freundin im Krankenhaus besucht habe.«
»Aber Sie haben ihn trotzdem nicht getötet«, erwidert sie. »Sie sind genauso wenig am Tod Ihres Mannes schuld wie ich daran, dass meiner abgehauen ist. Das ist das Einzige, was ich im Lauf des letzten Jahres gelernt habe. Was immer es ist, was dazu geführt hat, dass Calvin uns verlassen hat, war schon in ihm drin. Es hat nichts damit zu tun, dass ich eine schlechte Ehefrau war oder schlecht im Bett. Er hat mir sogar gesagt, dass ich im Bett viel besser bin als seine Achtzehnjährige. Das kann also nicht sein Motiv gewesen sein. Keine Ahnung, wie ich überhaupt auf die Idee komme, dass Sex eine Rolle gespielt hat. Vermutlich war das total unwichtig.«
»Wir wollen die Kontrolle über unser Leben«, sage ich.
»Genau«, bestätigt sie mit einem ironischen Kichern. »Selbst wenn wir dabei Gefahr laufen, akzeptieren zu müssen, dass wir an etwas schuld sind.«
Auch ich versuche Brookes Geschichte zu interpretieren.
Aber dann zuckt sie mit den Schultern, nimmt ihre Cola, trinkt einen Schluck und stellt die Dose auf ihrem von Sit-ups oder Pilates gut durchtrainierten Bauch ab. »Na ja, wir machen weiter. Mehr nicht. Calvin ruiniert alles, aber die Kinder und ich überleben. Und wir überleben nicht nur, wir haben sogar Spaß. Und ich kann die Erziehung genauso gestalten, wie ich es für richtig halte, und muss nicht dauernd Kompromisse mit seinen autoritären Grundsätzen eingehen.«
Kurz darauf kommen Tara, Aaron, T-Bone, Smoke und Red Dog zurück, ganz aufgekratzt von ihrem Hubschrauber-Erlebnis. »Man ist nicht nur mittendrin«, schwärmt Tara, »man sieht echt alles, komplizierte Steingebilde, Schluchten, die sich ihrerseits in die Hauptschlucht eingefressen haben … alles unglaublich … vielfältig.«
Zum Glück verstellt mir keiner der Neuankömmlinge den Blick auf den Pool. Ausgestreckt auf meiner Liege gebe ich mich ganz den Bewegungen der Wellen hin und fühle mich nach dem Gespräch mit meiner neuen Freundin ein ganzes Stück entspannter. Lansing ist nicht weit von Ann Arbor entfernt. Wir denken ähnlich, Brooke und ich. Vielleicht ist mein Leben doch noch nicht vorbei. Ich beginne etwas Neues. Ich spüre die Sonne nicht auf meinem Körper, ich höre nicht die Stimmen meiner Familie … – diese Leute sind doch vermutlich meine Familie, oder nicht? Sie erzählen von ihren Erleb nissen im Canyon und lachen, plaudern über ihr nächstes Kon zert in Albuquerque. Eigentlich seltsam, dass eine Rap-Gruppe dort überhaupt Fans hat. Ich höre, wie Brooke genau das ausspricht, was ich gerade gedacht habe. Vage nehme ich wahr, dass T-Bone mit ihr flirtet, und ihr
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