Ann Pearlman
begeistert. Seine Locken hüpften vor Freude, und vor lauter Grinsen waren seine schwarzen Augen fast verschwunden. »Das esse ich am allerlieblingsten.«
»Am allerliebsten«, verbesserte ihn Tara.
»Nein, Mommy, das ist mein Lieblingsessen, also esse ich es am allerlieblingsten.«
»Schönes Wort«, meinte Aaron und nickte. »Das sollten wir einführen.«
Rachel hatte ihre »Kaschenge« auch beim Abendessen angelassen.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Smoke, als wir ihr die Schwimmflügel überreicht hatten.
»Geschenke«, dolmetschte ich.
»Jep. Danke für die Kaschenge«, wiederholte Rachel und schob die Flügelchen über ihre Arme. Ich vergesse immer, dass ihre Aussprache nicht ganz so überwältigend ist wie ihr Wortschatz. Jedenfalls trug sie ihre »Kaschenge« das ganze Essen über, und sie hat sie noch immer nicht abgelegt, wo sie dicht neben Levy liegt und schläft.
In der abendlichen Stille nach einem chaotischen und schrecklich anstrengenden Tag öffnet Allie den Wein und gießt ihn in die Plastikbecher neben dem Eisbehälter.
Dann reicht sie jedem eines davon und sagt: »Ich hab mir immer eine Schwester gewünscht, aber leider nie eine bekommen. Ich hab mir vorgestellt, mit einer Schwester teilt man das Leben, sie weiß alles über einen, weil man mit ihr zusammen klein war.« Sie nippt an ihrem Wein. »Sozusagen eine beste Freundin, die alles von einem weiß, weil man nicht nur das gegenwärtige Leben teilt, sondern auch eine gemeinsame Kindheit hatte.«
»Wir sind altersmäßig zu weit voneinander entfernt«, sage ich.
»Und total verschieden«, ergänzt Tara.
»Wir haben nicht den gleichen Vater«, füge ich hinzu, als wüsste Allie das nicht und als würde es alles erklären. Dabei weiß ich, dass das nicht stimmt.
Allie legt sich zwischen den Kissen auf ihr Bett zurück. Die Decke ist in Kontrastfarben gemustert, damit man eventuelle Flecken nicht so sieht. Tara und ich sitzen auf den Sesseln am Tisch. In diesem Zimmer gibt es nichts Spektakuläres oder auch nur Interessantes. Es ist genau gleich wie das nebenan, in dem Rachel und ich untergebracht sind. Einfach, funktionell und sauber. Ich trinke einen Schluck Wein und konzentriere mich auf den Geschmack.
»Ihr glaubt also, ihr seid verschieden?«, fragt Allie und lacht. »Meine Großmutter und ihre Schwester hatten zwar äußerlich viel Ähnlichkeit, waren sich ansonsten aber total unähnlich. Darüber denke ich heute noch manchmal nach – wie es in ein und derselben Familie solche Unterschiede geben kann.« Allie schüttelt den Kopf, räuspert sich, stellt ihr Glas auf dem Bauch ab und kreuzt die Knöchel. »Meine Großmutter war deutsch, ihre Eltern sind um 1880 aus Deutschland eingewandert.«
»Ich dachte, du bist Jüdin«, sagt Tara.
»Bin ich auch, aber die Mutter meiner Großmutter, die alle Mum genannt haben, war Deutsche und stolz auf ihr deutsches Erbe. Wenn meine Nana und Mum nicht wollten, dass wir sie verstehen, haben sie Deutsch miteinander gesprochen.« Allie kichert leise und trinkt ihren Wein. Sie hat eine schwarze Strickhose an, ein wild gemustertes buntes Shirt und baumelnde Ohrringe, mindestens ebenso farbenfroh wie das Shirt. »Hier«, unterbricht sie ihre Geschichte und zündet auf dem Nachttisch eine Kerze an. »Gleich riecht es gut. Ich packe immer eine Duftkerze ein, damit ich ein Stückchen Zuhause um mich habe.« Das Streichholz erlischt wieder.
»Also, es waren einmal zwei Schwestern. Als meine Großmutter vierzehn war, wurde sie ins Krankenhaus geschickt, um eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Wie das damals eben so war. Es war ein jüdisches Krankenhaus, sie verliebte sich in einen jüdischen Arzt, heiratete ihn und konvertierte zum jüdischen Glauben. Alma, ihre Schwester, heiratete einen Mann, den sie bei einem deutschen Jugendtreffen kennengelernt hatte. Dann kam der Erste Weltkrieg und nach ihm die Große Depression.«
Allie hält inne, schaut in die Runde und fragt: »Das kennt ihr doch bestimmt alles von eurer Mom, oder nicht? Eure Großeltern waren ja auch Deutsche, in Michigan gibt es ja eine Menge deutscher Einwanderer.«
»So hab ich das noch nie gesehen«, sagt Tara. Sie hat sich die Haare mit einer Klammer hockgesteckt. Shorts, ein T-Shirt und kein Make-up, wodurch sie zehn Jahre jünger aussieht, wie ein kaum der Pubertät entwachsener Teenager.
»Tja, letztlich sind wir ja alle Einwanderer, sogar die Indianer. Die waren nur ein bisschen früher dran«, sagt Allie.
»Es
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