Anna, die Schule und der liebe Gott
könnte ja in gleichem Maße ein Indiz für schlechte Lehrer sein, die es nicht schaffen, viele Schüler zu erreichen, denen es nicht gelingt, sich zureichend um sie zu kümmern. Das Gleiche gilt für den Stolz bayerischer Kultusminister über die vermeintliche Qualität des Abiturs im Freistaat – weil es eben viele nicht schaffen. Bei den beiden ersten G8-Jahrgängen, die in den Jahren 2011 und 2012 in Bayern Abitur machten, scheiterten zehn Prozent bei der schriftlichen Prüfung – dreimal so viel wie in den Jahren zuvor.
Damit der Selektionsmechanismus auch greift, ist das Schulsystem, wie wir es in Deutschland mehrheitlich vorfinden, auf Fehler programmiert. Es soll gar nicht perfekt sein! Kinder und Jugendliche sollen kein optimales, auf ihre Persönlichkeit abgestimmtes Coaching vorfinden. Sie sollen sich nicht bilden, indem sie das Gelernte freudig in ihre Biografie aufnehmen. » Klassenarbeiten « , schreibt Sußebach seiner Tochter Marie, » sollen nicht nur helfen herauszufinden, welcher Schüler wo Schwächen hat – um dafür zu sorgen, dass es beim nächsten Mal besser klappt. Nein: Sie sollen auch helfen, die Schwächsten zu finden und auszusortieren. Deine Lehrerin hat nicht gesagt, es gehe ihr darum, alles zu tun, ›damit‹ Kinder Schritt halten können. Sondern zu prüfen, ›ob‹ … Diese Lehrerin spricht wie die Jurypräsidentin einer gigantischen Castingshow – in der nicht Werbeverträge vergeben werden, sondern Lebenschancen. Und zwar nur an die Passgenauen. « 57
Das konventionelle Schulsystem besitzt eine eingebaute Ineffizienz, etwas Unzulängliches, das die sogenannten guten Schüler von den sogenannten schlechten Schülern trennen soll. Unsere Schulen leben systematisch mit einem eingebauten Teilversagen und sind völlig darauf ausgerichtet. Was wäre eine Eins oder eine Zwei auf dem Zeugnis wert, wenn alle solche Noten hätten?
Die Folge des Sortiersystems ist eine soziale Selektion, die sich Deutschland eigentlich schon lange nicht mehr leisten kann. Man muss nur einmal daran denken, welch ausgesprochen dumme Idee es ist, ein Kind in der Schule sitzen bleiben zu lassen. Dabei waren die Motive, die preußische Bildungspolitiker zu Anfang des 19. Jahrhunderts dazu bewegten, das Sitzenbleiben zu erfinden, keine üblen gewesen. 58 1837 wurden in Preußen Jahrgangsklassen verbindlich, was bedeutete, dass man als Schüler von nun an nicht in verschiedenen Fächern in viel höhere oder tiefere Klassen gehen konnte (was auch einige Vorteile gehabt hatte). Mit dem Jahrgangsklassensystem, verbunden mit einem Kanon an festen Pflichtfächern, wurden die Schulen formal und inhaltlich aneinander angepasst – und das Sitzenbleiben wurde als Verfehlen des Jahrgangsklassenziels eingeführt. Die ganze Aktion zielte dabei auf Übersicht und Chancengleichheit. Außerdem nahm sie dem Adel die Möglichkeit, den eigenen Nachwuchs nach ständischen Spezialinteressen zu bilden und anderes zu vernachlässigen. Versetzungen, so könnte man etwas überspitzt sagen, dienten tatsächlich einmal dazu zu demokratisieren.
Im Deutschland der Gegenwart gilt das Gegenteil. Sitzenbleiben ist heute, ähnlich wie das dreigliedrige Schulsystem, ein Instrument der sozialen Selektion. Dass Kinder aus gutbürgerlichen Elternhäusern das Jahrgangsklassenziel verfehlen, kommt zwar vor, ist aber vergleichsweise selten. Zumeist trifft es bei den 250 000 Schülern, die in Deutschland jedes Jahr nicht versetzt werden, die unteren Schichten der Gesellschaft. Und hier jene, bei denen Eltern ihren Kindern weder bei den Hausaufgaben helfen noch teuren Nachhilfeunterricht bezahlen können. Denn der beste Garant, dem Sitzenbleiben zu entgehen, sind aufmerksame Mütter, die die Leistungen ihrer Kinder überwachen und gegebenenfalls optimieren. Wo sie nicht bereitstehen, wird es zumeist schwierig. Auch ich selbst hätte die beiden ersten Jahre am Gymnasium wahrscheinlich nicht überstanden, wenn meine Mutter damals nicht entschieden mit Üben und Überwachen eingegriffen hätte. Ich hätte dann ebenso von der Schule abgehen müssen wie meine zwölf Mitschüler, die es nicht gepackt hatten und tatsächlich alle aus unteren Schichten stammten.
Zu den sozialen Gründen für » Lernschwächen « kommen psychische Lernschwächen, die ebenfalls nichts mit Talent oder Begabung zu tun haben. Für mich bedeutete der Wechsel aufs Gymnasium damals eine schmerzhafte Umstellung aus der geborgenen Welt der Grundschule in eine als feindlich und
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