Anna, die Schule und der liebe Gott
herzlos empfundene Gymnasialwelt. Entsprechend brachen meine Leistungen ein. Vergleichbare oder andere psychische Probleme haben viele Kinder und Jugendliche.
Dass sich die Gefahr des Sitzenbleibens durch G8 noch einmal zusätzlich erhöht hat, macht die Sache nicht leichter. Wie Kurt Singer, ehemaliger Professor für Schulpädagogik und Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, im Jahr 2009 feststellte, hat sich der » Anteil der Jugendlichen, die Nachhilfe in Anspruch nehmen … deutlich erhöht. Fast jeder vierte Schüler nimmt Nachhilfe. « Und zwar nehmen neuerdings » nicht nur Gymnasiasten und Realschüler Nachhilfe, sondern auch ein Fünftel der Grundschüler. Sie werden für den Auslesedruck vorbereitet, um den Sprung aufs Gymnasium zu schaffen. In allen größeren Orten prangen Plakate: Schülerhilfe, Pannenhilfe, Soforthilfe, ambulante Unterrichtshilfe; es gibt Fitnesskurse zur Aufnahmeprüfung, für den Übertritt, für die Nachprüfung, den Probeunterricht, die Abschlussprüfung. Immer mehr Firmen werden gegründet, auch ein Kaffee-Discounter handelt mit dem Nachhilfeunterricht eines Bildungsunternehmens. Die Eltern zahlen 10 bis 40 Euro für die Stunde an Lernberater, Hausaufgabenbetreuer, Motivationstrainer, Dyskalkulietherapeuten, mobile Lernzentren, Legastheniestudios und so fort. « 59
Je mehr Stoff ein Lehrer seinen Schülern vorsetzen muss, umso weniger kann er auf sie eingehen. Die logische Folge ist das Anwachsen der Arbeiten, die Schüler zu Hause erledigen müssen, an einem Ort, wo kein Lehrer bereitsteht. In diesem Sinne kalkuliert unser gymnasiales System die Arbeitsleistung der Eltern mit ein und selektiert dabei streng nach Haushalten, die diese Leistung erbringen können oder eben nicht. Den größten Teil aller Nachhilfestunden in Deutschland verbringen unsere Kinder und Jugendlichen dabei mit Mathe-Lernen. 57 Prozent allen Nachhilfeunterrichts ist Mathe-Unterricht. 60 Kein anderes Fach und keine anderen Fachlehrer erhalten damit ein so schlechtes Zeugnis wie Mathematik und ihre Lehrer. Es ist das Schulfach, das in Deutschland am katastrophalsten dasteht, weil es unseren Mathe-Lehrern offensichtlich nicht gelingt, ohne massive Mithilfe von Eltern ihr Klassenziel zu erreichen. Ich komme auf dieses Problem zurück.
Erstaunlich, dass noch so viele Eltern diesen Umstand zu tolerieren scheinen, bei dem Lehrer ihre Arbeit auf sie abwälzen und Kinder ihrer wertvollen Freizeit beraubt werden. Denn im Grunde haben Schulaufgaben außerhalb der Schule gar nichts zu suchen! Und ein Lehrer, der seine Schüler zu Hause nachholen lässt, was er im Unterricht nicht geschafft hat, gehört ebenso wenig aufs Gymnasium wie ein Lehrer, bei dem besonders viele Kinder sitzen bleiben. Er gehört auf gar keine Schule. Man muss sich da unweigerlich die Frage stellen: Was macht er falsch? Wieso kann er nicht erklären und begeistern?
Dass es auch ohne Sitzenbleiben geht, zeigt ein Blick zu unseren europäischen Nachbarn. Länder wie Finnland kennen keine » Ehrenrunde « und kein » Kleben bleiben « . Desgleichen gilt für Schweden. Und in Dänemark und in Großbritannien ist eine Nichtversetzung zumindest unüblich. Anstelle des Aussortierens und Zurücksetzens tritt eine individuelle Förderung der Kinder in jenen Fächern, in denen größere Schwierigkeiten auftreten. Ein anderes Mittel, Sitzenbleiben überflüssig zu machen, sind kleinere Klassen und mehr Lehrer, die sich um lernschwache Kinder kümmern können. Dass man möglicherweise das gesamte System so umbauen kann, dass sich die Frage nach dem Sitzenbleiben ohnehin gar nicht mehr stellt, möchte ich im zweiten Teil des Buches zeigen.
Ein letztes, aber wichtiges Argument gegen das Sitzenbleiben ist, dass es die Sache oft nicht besser macht. Die Idee, ein ganzes Jahr zu wiederholen, nur weil man in zwei Fächern das Klassenziel verfehlt hat, ist ohnehin schon bizarr genug. Dazu kommt, dass Sitzenbleiben nur in ziemlich seltenen Fällen motiviert, weit häufiger führt es zur Demotivation. Wer sich selbst für einen schlechten Schüler hält oder halten muss, hat es schwer, ein guter zu werden. Gelangt man im Lehrplan zu jenem Stoff, an dem man im Vorjahr gescheitert ist, wiederholt sich oft das Versagen. Das Wiedererkennen von nicht bewältigtem Stoff löst im Regelfall keine Lernfreude aus, sondern Phobien. Und die Wahrscheinlichkeit, dass man ein zweites Mal daran Schiffbruch nimmt, ist überdurchschnittlich
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