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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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oder Joggen, andere benötigen einen Nachmittagsschlaf, um geistig fit zu bleiben etc. Wer sich bewegt, nimmt Informationen oft intensiver auf, als wenn er stillsitzt. Wie viele Lehrer in meiner Schulzeit haben sich darüber aufgeregt, dass ich nicht ruhig auf meinem Stuhl sitzen konnte. Und mein Physiklehrer diagnostizierte sogar ein Intelligenzproblem, weil ich als einer der Kleinsten meiner Jahrgangsstufe auf dem Stuhl gekniet habe. Dabei sind alle diese motorischen Bedürfnisse keine Defizite, sondern verstärken im Gegenteil die Aufmerksamkeit.
    Die Idee, dreißig Kinder über mehrere Stunden bei minimalen Pausen auf Stühlen in Sitzbänken zu verstauen, ist jedenfalls definitiv nicht mehr zeitgemäß und nicht » gehirngerecht « . Körperliche Passivität ist ein hoher Stressfaktor, physisch wie psychisch. Wer optimal lernen will, muss in der Lage sein, zwischendurch Pausen machen und sich bewegen zu können, und zwar entsprechend eines eigenen individuellen Rhythmus und Bewegungsbedürfnisses. Doch dass das in unserem Tayloristischen System nicht möglich ist, ist auch klar.
    Die problematischste Zeit im Hinblick auf die Konzentrationsfähigkeit ist die der Pubertät. In dieser Phase bilden sich im für höhere kognitive Leistungen verantwortlichen Stirnhirn Milliarden neuer Verknüpfungen. Von der Warte der Nervenverbindungen betrachtet, sind wir nie wieder so intelligent wie in der Pubertät. Bedauerlich daran ist nur, dass uns das explosionsartige Wachstum im Gehirn so sehr überfordert, dass wir oft sehr schlecht damit umgehen können. Auf der einen Seite erleben wir die sensibelste und kreativste Phase unseres bewussten Lebens. » Man träumt alles schon im Alter zwischen zehn und fünfzehn « , sagte der belgische Chansonnier Jacques Brel. » Und dann versucht man ein Leben lang, einen Teil dieser Träume zu verwirklichen. Mit fünfzehn ist es vorbei, obwohl – im Norden braucht man zwei Jahre mehr. «
    Auf der anderen Seite sind wir unausgeglichen, launisch und ständig mit uns selbst überfordert. Erst nach und nach schrumpft sich unser Gehirn wieder » gesund « . Erfolgreiche Nervenbahnen bleiben erhalten, andere werden abgebaut. Das wichtigste Kriterium bei diesem Rückbau ist der soziale Erfolg. Immerhin ist es der biologische Sinn der Pubertät, die Geschlechterrolle anzunehmen und einzuüben und sich dabei vom Elternhaus und anderen Autoritäten zu lösen – mithin ein selbstständiger Mensch zu werden. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass wir in diesem Alter kaum von unseren Eltern lernen, sondern überwiegend von Gleichaltrigen. Das aber kann nach Maßgabe unseres neurowissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Wissens nur bedeuten: Kinder in der Pubertät gehören eigentlich nicht in die Schule!
    Mein Wollen & ich
    Viele Probleme, die Lehrer mit ihren Schülern und Schüler mit ihren Lehrern haben, erklären sich leicht, wenn man sie mit den Augen von Hirnforschern und Entwicklungspsychologen betrachtet. Und viele weitere Einsichten kommen noch dazu, wenn man die Erkenntnisse der Bindungsforschung sowie der Emotions- und Motivationspsychologie mit einbezieht. Um sich in der Schule optimal zurechtzufinden und sich tatsächlich zu bilden, brauchen Kinder und Jugendliche ein Schulklima und ein Schulsystem, das es ihnen ermöglicht, so motiviert wie konzentriert zu lernen. Dabei müssen sie ihre emotionale wie kognitive Intelligenz entfalten können, nicht zuletzt im Umgang mit sich selbst, zum Beispiel in Stresssituationen, bei Überforderungen, im Scheitern, bei der Selbstorganisation und vielem anderen mehr. Und sie müssen ihr Gedächtnis trainieren, und zwar auf der Basis eines möglichst vielschichtigen und eleganten Umgangs mit Sprache.
    Den wichtigsten Anteil an einer Leistung hat dabei nicht die Intelligenz, sondern die Motivation. Um eine Leistung zu erbringen, ist es wichtig, sie erbringen zu wollen. Doch leider ist das mit dem Wollen eine ziemlich vertrackte Sache. Wie oft erleben wir dabei einander widerstreitende Kräfte. Schon Arthur Schopenhauer hatte ketzerisch behauptet: » Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will. « Zwar verfügen Kinder gemeinhin über eine starke Eigenmotivation, etwas lernen zu wollen, aber bekanntlich nicht immer bei dem, was sie lernen sollen. Sein Wollen auf ein Sollen zu lenken und sich darin zu trainieren, ist eine schwere Kunst, die viel Geduld, Aufmerksamkeit, Selbstbeobachtung und Impulskontrolle

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