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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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geistiger Ballast. Nur durch das Vergessen erhält das Erinnerte seinen Wert.
    Alles in allem haben wir es dabei mit einem dreistufigen Prozess zu tun. Das, was wir sofort in der Sekunde aussortieren, das, was wir uns kurz und flüchtig merken, und das, was wir langfristig speichern. Denn nicht nur das, was wir sofort aussortieren, verschwindet spurlos, sondern auch das allermeiste aus dem Kurzzeitgedächtnis ist bald darauf nicht mehr da. Wissen Sie noch, was Herder über Bildung gesagt hat? Kennen Sie noch den Prozentsatz von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern, die es in eine leitende Angestelltenposition schaffen? Sollte meine Vermutung zutreffen, dass Sie beides in diesem Buch nicht gänzlich ohne jedes Interesse gelesen haben, so hat es trotzdem möglicherweise nicht gereicht, um dauerhaft abgespeichert zu werden. Um wie viel schneller noch schalten wir auf Durchzug bei all den vielen belanglosen Gesprächen, die wir im Laufe unseres Lebens führen. Und eben auch bei langweiligen Schulstunden, von denen, wenn überhaupt, nur ein winziger Teil in Erinnerung geblieben ist. Selbst Dinge, die wir pausenlos wiederholt haben, bleiben oft nicht langfristig hängen. Es sei denn, sie haben eine gewisse rhythmische Struktur, wie etwa lateinische Deklinationen oder Konjugationen oder eben Gedichte.
    Eine höchst spannende Frage im biologischen Zusammenhang ist, warum manchen Menschen Lernen offensichtlich leichter fällt als anderen und was das mit » Intelligenz « zu tun hat. Die ehrliche Antwort ist: Wir wissen es nicht! Natürlich existieren inzwischen Tausende von Untersuchungen in vielen Ländern, die sich einzig mit dieser Frage beschäftigen. Und es gibt dabei einige Annahmen, die weitgehend geteilt werden. Doch bis heute ist völlig unklar, wie sich Intelligenzunterschiede im Gehirn abzeichnen könnten. Viele Forscher sind der Ansicht, intelligentere Menschen verbrauchten schlicht weniger Energie im Gehirn als weniger intelligente. Doch woran könnte das wiederum liegen? Paradoxerweise meinen vereinzelte Wissenschaftler, dass intelligente Menschen weniger Synapsen hätten, sodass die Umwandlung von elektrischer Information in chemische Information, die von Synapse zu Synapse schwimmt, insgesamt weniger Energie koste. Doch warum sollte das so sein, wenn Lernen gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass es neue Synapsen bildet?
    Andere Neurobiologen sind der Ansicht, dass es gar nicht auf die Synapsen-Zahl ankäme, sondern auf die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung. Die Fäden an den Nervenzellen – Sie erinnern sich? –, die Axone, die zu den Synapsen an den Dendriten führen, sind allesamt von einer weißen Isoliermasse ummantelt, nicht anders als ein Kabel. Und dieser weiße Stoff heißt Myelin. Je stärker die Myelin-Isolierung, umso schneller fließt der Strom und mit ihm die Information. Haben intelligente Menschen einfach mehr Isoliermasse? Doch selbst wenn dies stimmen sollte, fragt sich, ob schnell denken das Gleiche ist wie schlau denken. Und woher kommen die Unterschiede bei der Myelin-Schicht? Sind sie angeboren oder die Folge von Umwelteinwirkungen? So viel auch Hirnforscher über Intelligenz forschen, ihr biologisches Geheimnis hat noch niemand herausgefunden. Und möglicherweise ist » Intelligenz « einfach ein zu komplexer, unpräziser und vielschichtiger Begriff, als dass wir ihn mit den gegenwärtigen Mitteln der Forschung im Gehirn irgendwo wiederfinden.
    Gehirn und Entwicklung
    Auch wenn das Geheimnis der Intelligenz uns noch immer verborgen ist, so wissen wir heute gleichwohl sehr viel mehr über das Lernen als vor dreißig Jahren. Elementare Lernvorgänge im Gehirn können gegenwärtig ziemlich exakt beschrieben werden und auch die Bedingungen, unter denen Lernen besonders erfolgreich ist oder eben nicht. Und wir kennen die Herausforderungen sehr viel besser, vor denen das menschliche Gehirn in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen steht und was diese Anforderungen mit unserem Gehirn machen. Sollten wir all dieses Wissen in die pädagogische Praxis umsetzen, um unseren Schulunterricht » gehirngerecht « zu gestalten – und ich sehe keinen Grund, warum wir unsere Schulen nicht auf die Höhe des Wissens bringen sollten –, so führt dies zu gewaltigen Veränderungen.
    Von Natur aus bringen Kinder zwei herausragende Eigenschaften mit. Sie sind unbändig neugierig, und sie lernen sehr schnell – viel schneller und viel mehr als Erwachsene. Ihr Gedächtnis und ihre

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