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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Versenkung tatsächlich dem Genuss von Alkohol oder anderen bewusstseinserweiternden Substanzen: Es führt zu keinem abschließenden Ziel, aber die Reise geht durch schöne und abwechslungsreiche Landschaften. Allerdings ist unser Gehirn beileibe nicht auf pausenlose Euphorisierung angelegt. Wird sie zum Beispiel durch künstliche Substanzen ermöglicht, bezahlen wir dafür einen Preis in Form von Kopfschmerzen, einem Kater, Müdigkeit, Leere oder gar einer Depression.
    Ob wir einen Flow erleben oder einfach stolz, froh oder erleichtert sind, etwas verstanden, geschafft oder bewältigt zu haben – unser Gehirn speichert Dinge umso besser, je intensiver die Erregung während des Lernens war. Leider gilt das Gleiche auch für extrem negative Erlebnisse mit ihren entsprechenden Ausschüttungen starker Stresshormone. Angstzustände und Blockaden werden in die Gehirnschublade mit den unvertauschbaren Glanzbildern ebenso einsortiert wie alles Schöne. Dabei merken wir uns nicht nur das, wofür wir belohnt oder bestraft wurden (sei es von außen oder durch uns selbst), sondern wir speichern auch vieles vom Kontext ab, die Personen, die daran beteiligt waren, den Raum und die Begleitumstände. Man braucht sich nur einmal kurz mit geschlossenen Augen an weit zurückliegenden Schulstoff erinnern, etwa an das Wort » Cosinus « oder » Ablativus absolutus « oder » Adverbialphrase « oder » Paulskirche « . Jedes davon dürfte bei den meisten emotional unterschiedlich besetzt sein. Und mitunter tauchen sofort die Gesichter von Lehrern vor dem geistigen Auge auf oder ein Klassenraum.
    Ob wir uns etwas für lange oder immer merken, ob eine Erfahrung oder eine Information sich in unserem Gehirn konsolidiert, hängt also davon ab, ob sie einmal als bedeutsam erfahren worden ist – aus welchen Gründen auch immer. Oft müssen dies keine weltbewegenden Ereignisse sein; eigenartigerweise behalten wir häufig Zufälliges und augenscheinlich Belangloses und rätseln später darüber, warum wir uns gerade das gemerkt haben. In jedem Fall aber speichern wir die Erinnerungen nicht isoliert, sondern immer als Teil eines Zusammenhangs, der Spuren bei uns hinterlassen hat. Lais – Spur, Bahn oder Furche – ist die indogermanische Wurzel des Wortes » Lernen « .
    Mitunter ist es wirklich erstaunlich, wie präzise wir uns manches merken können. Aber auch, welche Fehler uns dabei unterlaufen. So etwa habe ich mir vor einiger Zeit das Vergnügen gemacht, den Film Arabeske (mit Sophia Loren und Gregory Peck) von Stanley Donen anzuschauen, den ich ein einziges Mal zuvor gesehen hatte, im Alter von zwölf Jahren. Da ich in meiner Kindheit kaum fernsehen durfte, damals ein beeindruckendes Erlebnis (Dopamin!). Im Laufe des Films kommt es zu einer nächtlichen Verfolgungsjagd durch den Londoner Zoo, derer ich mich besonders gut entsinne, weil mein Lieblingstier (Dopamin!), der seltene philippinische Affenadler, dabei auftaucht. Affenadler gibt es seit Jahrzehnten in keinem Zoo der Welt mehr, und der laut aufkreischende Adler im Vogelhaus blieb mir tief in Erinnerung. Als ich den Film nun, fünfunddreißig Jahre später, ein zweites Mal sah, musste ich zu meiner Verblüffung feststellen, dass bei der Verfolgungsjagd gar kein Vogelhaus in Erscheinung tritt, sondern nur ein gespenstisches Raubtierhaus und ein Aquarium. Der Affenadler kreischt auch nicht, sondern hüpft aufgeregt in einer Außenvoliere herum. Meine Erinnerung hatte also den Vogel so mit den beiden Tierhäusern vermischt, dass er von der Außenvoliere in eine bei Nacht gespenstischere Innenvoliere gerutscht war. Dagegen stimmten Dialoge aus dem Film, die ich noch wusste, tatsächlich wörtlich überein. Offensichtlich deshalb, weil es nichts gab, mit dem sie sich hätten überlagern können.
    Um unser Gedächtnis zu verstehen, ist es nicht nur wichtig zu begreifen, warum wir etwas erinnern, sondern ebenso, warum wir so vieles vergessen. Die allermeisten Informationen, die wir mit unseren Sinnesfasern wahrnehmen, speichern wir gerade nicht. Man sollte dabei keineswegs vergessen: Wer nichts oder wenig vergisst, wird dadurch ja nicht zu einem Genie, sondern zu einem armen Tropf. Wie gesagt, dient das Vergessen dazu, das Relevante vom Irrelevanten zu unterscheiden. Wer das nicht oder schlecht kann, ordnet alle Daten gleichrangig nebeneinander, ohne sie dabei zu bewerten. Und das, was wir nicht sortieren, bewerten und mit Bedeutung versehen, ist kein Wissen, sondern Datenmüll und

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