Anna, die Schule und der liebe Gott
mich ausübt. Autonomie- und Kontrollverlust aber rauben meine Selbstbestimmtheit. Und wer sich nicht selbstbestimmt fühlt, ist auch nicht intrinsisch motiviert.
Aus alldem folgt nicht, dass äußere Anreize grundsätzlich den intrinsischen Antrieb zerstören müssen. Wer überraschend belohnt wird, verliert dadurch nicht seine Motivation. Das Gleiche ist der Fall, wenn der Belohnte sich nicht kontrolliert fühlt, weil er nicht für die Belohnung gearbeitet hat, sondern zusätzlich belohnt wird, etwa in Form eines Dankes oder Dankgeschenkes. Und auch verbale Belohnungen, also Lob und Zuspruch, verderben normalerweise nicht die Eigenmotivation, sondern werden zumeist als eine Anerkennung empfunden, welche unsere Autonomie stärkt. Ausgenommen natürlich, ich werde pausenlos gelobt, in diesem Fall verliert das Lob seinen Wert. Belohnungen sind also vor allem dann gut, wenn sie nicht Teil eines Belohnungs- oder Bestrafungssystems sind, dem man sich notgedrungen unterwirft – aber genau dies ist in unseren herkömmlichen Schulen nahezu überall der Fall.
Gehirngerecht lernen
Das menschliche Gehirn hat sich im Laufe der Evolution aufs Lernen hin optimiert, aber, wie Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, schreibt, nicht für die Schule. Extrinsische Motivationen durch Noten gehören kaum zum » gehirngerechten Lernen « . Und auch zum Auswendiglernen sind Menschen nur bedingt geeignet. Man könnte das, was unsere Kinder in der Schule den Tag über treiben, ganz gut mit Springreiten vergleichen. Pferde sind Tiere, die von Natur aus wenig springen, allenfalls als Fohlen im Übermut. Ein Pferd, das in der Wildbahn einen Graben oder eine Spalte im Boden vorfindet, wird diese niemals überspringen, obgleich es das tun könnte. Aber Pferde scheuen das Springen und ziehen es vor, das Hindernis weiträumig zu umgehen. Pferde sind zum Laufen optimiert, nicht zum Springen. In der Dressur freilich lassen sich Pferde, oft mühselig und grausam und unter Einsatz extrinsischer Belohnungen, dazu bringen, Hindernisse zu bewältigen und dabei beachtliche Höhen zu überwinden. Nicht anders verhält es sich beim Menschen. Was das Laufen für das Pferd ist, ist das Lernen für den Menschen. Und was das Springen ist, ist das Auswendiglernen unter der Androhung von Sanktionen oder dem Einsatz extrinsischer Belohnungen.
Wir wissen so viel über das menschliche Lernen, dass es überfällig ist, all dies auch in unseren Schulen umzusetzen. Man erinnere sich noch einmal an das Gedankenspiel, was für eine Schule man heute wohl erfinden würde, wenn es bislang keine gäbe. Vermutlich würde man die Erkenntnisse der Hirnforschung an den Anfang stellen, einschließlich jener der Kognitions- und Entwicklungspsychologie. Und nachdem wir alles berücksichtigen, unser Wissen über die Entwicklungsphasen des Gehirns, über die Konzentrationsfähigkeit von Kindern, über das Zusammenspiel von Lernen und Bewegen, über die Bedeutung und die Spielregeln der Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit und über intrinsische und extrinsische Motivation, würden wir uns an die pädagogische Umsetzung machen und die Didaktik genau darauf abstimmen.
Aber lassen sich diese Erkenntnisse so einfach umsetzen? Im Gegensatz zu den eben genannten Disziplinen ist Pädagogik keine Wissenschaft. Selbstverständlich kann man wissenschaftlich über Pädagogik forschen. So kann man etwa philologisch und historisch eine Geschichte der pädagogischen Ideen schreiben. Man kann statistisches Material über Schulabschlüsse, Herkunftsfamilien, Schulformen und dergleichen auswerten. Und man kann den immer heiklen Versuch unternehmen, die Methoden zu evaluieren, mit denen man Kindern etwas beigebracht hat. Aber all dies bedeutet nicht, dass Pädagogik selbst wissenschaftlich ist. Wie wer unter welchen Bedingungen und nach welchen Methoden wem was beibringen sollte, ist niemals wissenschaftlich exakt zu bestimmen.
Für Kant war es die Aufgabe der Pädagogik, der pädagogischen Praxis Wissen zur Verfügung zu stellen, versehen mit dem humanistischen Ziel, Kinder zu mündigen und selbstbestimmten Menschen zu machen. Das Wissen, das es für die pädagogische Praxis braucht, ist heute jedoch nicht nur pädagogisches, sondern ebenso ein neuropsychologisches und lernpsychologisches Wissen.
In der Realität der meisten Schulen, der Lehrpläne, der Unterrichtsgestaltung und des Schulsystems kann davon allerdings kaum die Rede sein. Auch
Weitere Kostenlose Bücher