Anna, die Schule und der liebe Gott
Auffassungsgabe sind dem ihrer Lehrer meist ebenso überlegen wie ihre Wissensfreude. Unsere alltägliche Situation in der Schule ist somit dadurch gekennzeichnet, dass Menschen, die langsam lernen bei gemeinhin eher mäßiger Neugierde, auf Menschen treffen, die sehr schnell sehr viel lernen und behalten können mit gemeinhin unbändiger Neugierde. Die erste Gruppe sind Lehrer und die zweite Schüler.
So weit die Natur der Sache. Mit dem, was an unseren Schulen vor sich geht, hat sie freilich nur sehr eingeschränkt etwas zu tun. Wer einmal eine Schulklasse mit Fünfzehnjährigen beobachtet hat, am besten in der sechsten und siebten Schulstunde, sieht die Dinge vermutlich anders. Unbändige Lernfreude? Rasche Auffassungsgabe? Nichts von alledem.
Wo liegt der Grund für den großen Unterschied zwischen der Natur der Sache und ihrer sozialen Realität in Deutschland im Jahr 2013? Dass Kinder und Jugendliche eine enorm hohe intrinsische Motivation haben, etwas zu lernen, steht auch für den größten Skeptiker vermutlich nicht in Frage. Kinder lernen von sich aus Laufen und Sprechen, im Alter von vier bis sieben löchern sie ihre Eltern oft pausenlos mit Fragen. Und auch danach gibt es wenige, die lange rasten oder ruhen, bis sie alle Funktionen ihres Smartphones verstanden und ausprobiert haben. Selbst Aufgaben, die nur mit halbem Engagement in Angriff genommen werden, wie zum Beispiel Vokabeln lernen, bewältigen sie häufig besser als ein hoch motivierter Erwachsener. Und nur die allerwenigsten Erwachsenen können mit einem durchschnittlichen Schüler konkurrieren, wenn es darum geht, eine große Menge von Stoff durch den geistigen Durchlauferhitzer zu jagen, so wie es unsere Kinder und Jugendlichen tun müssen.
Die Gründe, warum so viele Schüler (zunehmend schon in jüngerem Alter) so demotiviert, lustlos und abgelenkt wirken, haben sowohl mit der Schule zu tun als auch mit den Elternhäusern und der sozialen Umwelt heutiger Kinder. Der erste Grund ist die Reizüberflutung. Eine einzige Wochenzeitung enthält heute vermutlich mehr Informationen, als ein Bauer im 17. Jahrhundert in seinem ganzen Leben zu bewältigen hatte. Und die optischen und akustischen Signale, denen die Gehirne unserer Kinder im digitalen Zeitalter in einem Monat ausgesetzt sind, dürften die des Bauern ebenfalls hundertfach übertreffen. Und anders als noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts bietet die Schule damit nicht von sich aus allzu viel Aufregendes. Der alltägliche Bedarf an Außeralltäglichem ist aber enorm gestiegen. Und anders als noch vor zwanzig Jahren steht sie, was die Vermittlung von Wissen anbelangt, heute unter enormer Konkurrenz durch das Internet. In dieser Situation auf die Verwahrlosung vieler Kinder durch Elektronikmüll hinzuweisen, gegen fahrlässige Elternhäuser anzuschimpfen und kulturpessimistisch zu werden, ist zwar legitim, aber zugleich völlig sinnlos – ein Versuch, mit der Luftpumpe die Windrichtung zu ändern. Denn die, die ihren Erziehungsstil ändern sollten, sind wirklich die Letzten, die diesen Klagen zuhören, geschweige denn ihr Leben ändern werden.
Der zweite Grund für so viele demotivierte und lustlose Schüler ist dagegen hausgemacht – und wie ich zeigen möchte, lässt sich auch einiges dagegen tun. Denn vieles, was in unseren Schulen Usus ist, widerspricht elementar unserer Erkenntnis über die Gehirne Heranwachsender. Ein wichtiger Faktor ist zum Beispiel das Arbeitsgedächtnis. In welcher Schule wird eigentlich berücksichtigt, » dass die Konzentrationsfähigkeit im Laufe eines Lebens nicht immer gleich entwickelt ist « ? Zudem ist die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern und Jugendlichen gegenüber der von Erwachsenen deutlich begrenzter: » So beträgt die Fähigkeit, sich am Stück zu konzentrieren, bei sechsjährigen Kindern lediglich 15 Minuten, bei neunjährigen Kindern 20 Minuten, bei elfjährigen etwa 30 Minuten. « 102
Dass eine Schule, die diesen Befund ernst nimmt, nichts mehr mit den meisten unserer heutigen Schulen gemein haben kann, liegt auf der Hand. Zu den wichtigsten Einsichten der Lernforschung gehört der unmittelbare Zusammenhang zwischen Lernen und körperlicher Bewegung. Wer sich körperlich betätigt, geht, läuft oder herumtobt, stärkt dabei seine synaptischen Verknüpfungen. Eine ganze Reihe von chemischen Düngern wird ausgeschüttet, die für ein gutes Wachstum von Verbindungen sorgen. Nicht wenige Menschen haben ihre besten Einsichten beim Spazierengehen
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