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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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sondern nur vom Geschick des Programmierers.
    Obwohl Skinner zahlreiche Anhänger für seinen programmierten Unterricht fand, korrumpierte er mit seinem unmenschlichen und bio-psychologisch falschen Menschenbild die Idee des Mastery Learning für Jahrzehnte. » Jegliche Idee « , schrieb der Schriftsteller und Kulturphilosoph Siegfried Kracauer, » wird plump, platt und verzerrt auf ihrem Weg durch die Welt. Die Welt vereinnahmt sie nur nach Maßgabe ihres eigenen Verstandes und Bedarfs … Die Geschichte der Ideen ist eine Geschichte von Missverständnissen. « 108 Wie sehr trifft dies auf Washburnes Mastery Learning zu. Was einmal Teil einer menschenfreundlichen, umsichtigen und sozialen Pädagogik war, erschien nun als menschenverachtend, engstirnig und asozial. Vor dieses Problem fanden sich in den sechziger und siebziger Jahren die wenigen Pädagogen gestellt, die versuchten, Washburnes Konzept wiederzubeleben, nämlich der Skinner-Schüler John B. Carroll, Benjamin Bloom und James H. Block. Mit dem Niedergang des Behaviorismus in der Psychologie und Pädagogik kippten seine Kritiker das Kind gleich mit dem Bade aus und identifizierten jede Form von Mastery Learning als kalt und » mechanistisch « .
    In Deutschland wurde die Idee des » zielerreichenden Lernens « , von wenigen Ausnahmen abgesehen, ohnehin kaum wahr- oder ernst genommen. Aus konservativer Sicht, die alles » individualisierte Lernen « für eine überspannte und nicht praktikable Idee hielt, waren schnell Argumente gefunden, um sie zu verwerfen. Wie sollte man in der Klasse jeden Schüler einzeln beschäftigen? Führt das nicht zu einem unübersichtlichen Tohuwabohu, gar zu einer » unverbindlichen Atomisierung der Schülerschaft « , wie Michael Felten wettert? 109 All das Gute, was ein Lehrer einem Schüler in einem idealen Einzelunterricht vermitteln konnte – ein Lernen nach den Fähigkeiten und dem Tempo des Kindes –, gehe niemals in einer ganzen Schulklasse. Wenn jeder in seinem eigenen Rhythmus arbeitet – soll der Lehrer dann immer warten, bis der Letzte fertig ist, ehe ein neuer Stoff behandelt werden kann? Und sollen die begabten Schüler so lange ausharren und ihre Lektionen wiederholen, bis sie endlich weiterlernen dürfen? Und wissen die Verfechter des Mastery Learning denn nicht, dass das Leistungsniveau einer Klasse in dem Maße sinkt, wie häufiges Wiederholen für die Schwachen das zügige Voranschreiten der Starken blockiert?
    Natürlich basieren all diese Einwände auf einem völligen Missverständnis. Denn ein Lehrer, der befürchtet, dass individualisiertes Lernen nach Washburne nur dazu führt, dass er mit dem Stoff nicht durchkommt, versteht nicht, dass ein solches Klassenziel ja gar nicht mehr existiert! Die Vorgabe, mit der man innerhalb der festen Zeit eines Halbjahres, getaktet in Fünfundvierzig-Minuten-Wochenstunden, ein bestimmtes Pensum erreicht haben muss, ist abgeschafft. Stattdessen wird von einem Wissensminimum ausgegangen, das jeder Schüler innerhalb einer festgelegten Zeit von Jahren an einer weiterführenden Schule zu erlangen hat, und zwar gleichgültig, ob er dafür kürzer oder länger braucht. Für die starken Schüler ergibt sich dabei die Chance, über das Minimum weit hinauszugehen ins nahezu Unbegrenzte und so viel mehr zu lernen als in jedem Klassenunterricht. Und was die Angst vor dem Chaos anbelangt, so steht nicht mehr ein einziger Lehrer vor den individuell lernenden Schülern, sondern ein kleines Coaching-Team, aus dem jeder hilfsbedürftige Schüler sich seinen Ansprechpartner aussuchen kann. Dass sich so etwas nicht en passant als Dreingabe in einer stoffüberfüllten G8-Schule realisieren lässt, ist natürlich auch klar. Stattdessen haben wir es mit einer ganz anderen Art von Schule zu tun.
    Was diese Schule von herkömmlichen Schulen unterscheidet, ist ein völlig verändertes Konzept von Kompetition. In einer konventionellen Schule befindet sich jeder Schüler mit seinen Mitschülern in einem (indirekten) Wettbewerb, da alle, der Idee nach, vom Lehrer nach demselben Prinzip bewertet werden sollten: Wie gut sie es geschafft haben, das Leistungsziel innerhalb des Schuljahrs zu erreichen, nämlich entweder besser oder schlechter als die anderen. Wenn jemand innerhalb des gleichen Zeitraums viel mehr Zeit erhält, dieses Ziel zu erlangen, ist das nicht fair. Dieser vermeintliche Fairness-Grundsatz schwebt über den konventionellen Schulen, um Schülerleistungen überhaupt miteinander

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