Anna, die Schule und der liebe Gott
(1850 –1937) im Jahr 1909 für ihre Sommerschule in Lyme ( USA , Connecticut) erfunden hatte – wird damit Realität. Mit Lernsoftware können Menschen überall in der Welt ohne größeren finanziellen Aufwand selbstständig lernen und studieren, und zwar ganz ohne Noten und Prüfungsangst.
Man sollte sich daran erinnern, dass die Ausbreitung eines flächendeckenden Schulsystems im 19. Jahrhundert nur dadurch möglich gewesen war, dass ausreichend Schulbücher zur Verfügung standen. Und dass diese nach und nach auch für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich wurden. Die fachliche Autorität des Lehrers beruhte auf der Autorität von standardisiertem Wissen in den Schulbüchern. Über viele Jahrhunderte verlief die Grenze zwischen den Gebildeten und Ungebildeten entlang der Frage, wie viele Bücher man gelesen hatte. Und dies wiederum hing davon ab, wie viele Bücher man sich leisten konnte, denn Bücher waren zu allen früheren Zeiten wesentlich teurer als heute. Viele Menschen in Europa waren schon deshalb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ungebildet, weil sie sich keine Bücher kaufen konnten. Bücher zu lesen war nicht Teil ihrer Alltagskultur. Durch den Computer hingegen stehen bei finanziell geringem Aufwand ganze Lernwelten zur Verfügung. Schon jetzt vertrauen viele Schüler bei ihrem Lernstoff eher Wikipedia als ihrem Lehrer. Die Deutungshoheit des Lehrers als Zulieferer von Wissen nimmt damit ab – seine Rolle als Erklärungskünstler hingegen ist proportional gestiegen.
Doch auch ohne einen Lehrer ist das Verführungspotenzial guter Lernsoftware immens hoch. Einen spannenden Versuch dazu machte der indische Bildungsforscher Sugata Mitra von der Newcastle University (England) in einem Slum in der indischen Hauptstadt Delhi – das Hole-in-the-Wall -Experiment. Im Jahr 1999 baute Mitra einen Computer mit Lernsoftware in die Wand eines Kiosks im Elendsviertel Kalkaji ein. Allen Kindern wurde erlaubt, ihn frei zu benutzen. Das Ergebnis übertraf sämtliche Erwartungen. Die Kinder drängelten sich um den Bildschirm und brachten sich unter wechselseitiger Hilfe selbst bei, das Lernprogramm in Mathematik zu bedienen. Sie lernten dabei nahezu spielerisch Englisch, sodass sie bald E-Mails schreiben und chatten konnten. Unter den erweiterten Möglichkeiten eines neueren Computers vermochten sie ohne jede Anleitung das Internet zu benutzen. So konnten sie die Fragen ihres Lernprogramms besser beantworten. Und sie erreichten innerhalb kürzester Zeit ein verblüffend großes mathematisches Wissen und Können.
Mitra wiederholte das Experiment an weiteren zweiundzwanzig Kiosken in Indien und seit 2004 auch in Kambodscha. Das Resultat war überall genau das gleiche: Die Kinder waren allesamt enorm neugierig und brachten sich in einem eher knappen Zeitraum vergleichbar schwere Mathematik bei. Mitra erhielt mehrere große Auszeichnungen für seine Forschung. Sie gaben Anlass für den Roman Q & A (geschrieben von Vikas Swarup), dessen Verfilmung weltberühmt wurde: Unter dem Titel Slumdog Millionaire gewann die Geschichte acht Oscars.
Der Fachbegriff, den Mitra für die beeindruckende Selbstbildung der Kinder mithilfe von Lernsoftware prägte, heißt Minimally Invasive Education ( MIE ). Auch die Khan-Akademie beruht auf diesem Grundsatz, die ureigenste Neugier des Menschen durch Computerprogramme zu entfalten. Dabei geht es Khan nicht nur darum, dass jemand Grundkenntnisse erwirbt – wie etwa das Lernen in einem Selbstlernbuch für eine Fremdsprache –, sondern dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mithilfe einer ausgeklügelten Pädagogik Zusammenhänge verstehen. Es geht um die Freude am Entdecken; das Wissen soll sich vernetzen. Und Kinder und Jugendliche sollen die Erfahrung machen, wie sie selbsttätig die Welt entdecken und verstehen.
Bedauerlicherweise hat Deutschland, im Gegensatz etwa zu den skandinavischen Ländern, diese Umstellung auf ein Mastery Learning mit Lernsoftware weitgehend verschlafen und verpasst. Die 1996 gegründete Initiative » Schulen ans Netz « hat zwar fast allen Schulen einen Internetzugang und einen Computerraum beschert – aber mit einer klugen Pädagogik hat all das noch lange nichts zu tun. Wer als Lehrer einmal in der Woche mit seinen Schülern den Computerraum aufsucht, um ein Lernprogramm zu machen, begeht damit eine ähnliche Witzlosigkeit wie früher der Gang ins » Sprachlabor « . Vielleicht sollte man solche Räume konservieren, um sie in einigen
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