Anna, die Schule und der liebe Gott
des einzelnen Kindes gedacht werden sollte, ebenso irreführend wie die Vorstellung, unsere Kinder hätten in der Schule eine persönliche Bildungsbiografie, die diesen Namen auch verdient. Denn nichts im Tayloristischen Schulsystem ist auf das Individuum zugeschnitten, sondern alles auf kollektive Klassenziele. Und diese sollen nach Möglichkeit im Gleichschritt erreicht werden.
Was das bedeutet, kennt jeder aus seiner eigenen Schulzeit. Um das Klassenziel nicht zu verfehlen, ist der Lehrer gezwungen, Schüler zu überfordern, die im Stoff nicht mitkommen – ein Rückstand, der häufig genug auch später nicht aufgeholt wird. Andere Schüler dagegen langweilen sich, weil sie unterfordert sind und nicht ausreichend gefördert werden. Und nur die Durchschnittlichen kommen halbwegs auf ihre Kosten. Ein solcher Zustand wird weder dem Auftrag gerecht, die Schwächeren zu fördern, noch die Starken zu fordern. Begabungen bleiben brach liegen, und Lücken, die einmal gerissen wurden, können nicht mehr aufgeholt werden. Kein Kind wird damit entsprechend seines individuellen Potenzials, seiner Neigungen und Talente durch die Schule begleitet.
Doch dass Kinder, Talent hin, Schwächen her, in Jahrgangsklassen unterrichtet werden, ist kein ehernes Gesetz, das man nicht ändern könnte. Es war auch nicht schon immer so! In den ländlichen Regionen Deutschlands besuchten bis weit ins 20. Jahrhundert die Kinder von den umliegenden Höfen ungeachtet ihres Alters eine einzige Klasse, in der sie je nach Reife mit unterschiedlichem Wissen und Ansprüchen konfrontiert wurden. Die Jahrgangsklasse dagegen ist ein Phänomen der Städte, insbesondere der Großstädte. Das Rekrutieren und Zusammenstellen nach Jahrgängen nach den Regeln des Militärs traf dort auf die fabrikmäßige Organisation von Lernen und den Kontrollanspruch der Bürokratie. Und alles drei zusammen ergab jenes eigentümliche Modell, das wir bis heute kennen und für » normal « halten.
Der große Vorteil der Lernfabriken war, dass man das, was in ihnen vor sich ging, einfach erfassen, vergleichen und verwalten konnte. Was man dabei entsprechend des Zeitgeists im 19. und frühen 20. Jahrhundert ungerührt in Kauf nahm, war der Verlust des » Wertes « von Lernen für den einzelnen Schüler. Wie gezeigt, verlieren Menschen ihre intrinsische Motivation, wenn das Lernziel entweder zu hoch angesetzt ist, sodass man nicht glaubt, es erreichen zu können, oder zu tief, sodass das Erreichen keinen besonderen Wert darstellt. » Eine optimale Leistung entsteht dort, wo die Kompetenz für eine Aufgabe und der Schwierigkeitsgrad sich die Waage halten. Wer seine Kinder unterfordert, sät Langeweile, wer seine Kinder überfordert, muss mit einem Motivationsverlust rechnen. Wer dagegen realistische Ansprüche stellt, steigert die Aufmerksamkeit, das Lernvermögen und die Konzentration bei seinen Kindern. « 107 Realistische Ansprüche gegenüber jedem Schüler zu stellen aber ist, wie jeder Lehrer weiß, im standardisierten Klassenzimmermodell unmöglich.
Washburne
Dass im Tayloristischen Schulsystem etwas ganz Wesentliches auf der Strecke geblieben war, nämlich die intrinsische Motivation und das individuelle Lernen, wurde schon früh erkannt und kritisiert. Doch kaum jemand setzte dem ein so pfiffiges und klug ausgetüfteltes Konzept entgegen wie Carleton Washburne. 1889 in Chicago geboren, wuchs Washburne in einem Pädagogen-Haushalt auf, inspiriert durch viele neue revolutionäre Ideen. Die beiden bedeutendsten US -amerikanischen Pädagogen ihrer Zeit, der Philosoph und Psychologe John Dewey (1859 –1952) und der Reformpädagoge Francis W. Parker (1837 –1902) gingen bei den Washburnes ein und aus. Progessive education lautete damals das Zauberwort – das Fördern von sozialen Fähigkeiten, von Selbstaufmerksamkeit, von körperlicher Bewegung und Ertüchtigung und den Einbezug der Ideen der Kinder in den Unterricht. Washburne studierte Kunst und kümmerte sich in einer Schule um eine Klasse von Kindern, die als hoffnungslose Fälle galten. Dabei versuchte er, jedes einzelne Kind gemäß dessen Anlagen und Fähigkeiten zu fördern. Sein durchschlagender Erfolg als Lehrer führte ihn nach San Francisco und schließlich zurück in die Umgebung von Chicago, in die Kleinstadt Winnetka. Als Superintendent stand er den dortigen Schulen vor.
Nachdem er sich ausgiebig mit den reformpädagogischen Ideen in Europa befasst hatte, gründete er in Winnetka ein College, um Lehrer
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