Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
Vom Netzwerk:
Mathematik zum Beispiel baut Stück für Stück aufeinander auf. Und wer einmal den Vermerk unter seiner Note in der Klassenarbeit hat: » Die Grundlagen der Algebra müssen wiederholt werden! « , steht damit völlig allein da. Denn wer sein Mathe-Buch ohnehin noch nie verstanden und das alte vom letzten Schuljahr abgegeben hat, wie soll der ohne Hilfe die Grundlagen der Algebra wiederholen? Schon der Gedanke, ganz allein zu kapieren, was man früher einmal trotz Lehrer und Unterricht nicht begriffen hat, ist absurd. Und der einzige Weg, der den privilegierten Weizen von der unterprivilegierten Spreu trennt, ist dann das Elternhaus, das Zeit und/oder Geld in die Nachhilfe investiert.
    Während in traditionellen Schulen sich alles nach der Zeit richtet, in der etwas gelernt wird, geht es beim Mastery Learning nur um die Lernstufen und Lernziele, die man erreichen muss. Die Zeit, ein wichtiger Faktor Tayloristischer Arbeitsprozesse, verliert damit ihre Herrschaft. Dass jeder ein anderes Lerntempo hat – das große Problem des Standardmodells –, ist damit gelöst. Doch warum setzte sich Washburnes neues Lernmodell mit seinen neuen Lernparametern nicht durch, wo die Erfolge so beträchtlich waren?
    Was von Washburne blieb, war am Ende die Erfindung von Selbstlernfibeln, vor allem für Fremdsprachen. Und ein kleiner Insider-Witz, den sich die Macher des Hollywoodfilms Kevin – Allein zu Haus im Jahr 1990 leisteten, als sie den aufgeweckten Anarcho-Knaben in Winnetka ansiedelten, in der 671 Lincoln Avenue. Ansonsten aber geriet Washburne noch zu Lebzeiten nahezu in Vergessenheit. Dem kurzen Hype um das Mastery Learning war keine Bildungsrevolution in den USA gefolgt. Zu starr und festgefahren war das traditionelle System, um sich länger als ein paar Jahre von etwas Neuem beeindrucken zu lassen.
    Das Schicksal einer guten Idee
    Doch die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Ihre Wiedergeburt fand die Idee des individualisierten Lernens in den fünfziger Jahren, allerdings im Kopf eines völlig ungeeigneten Pädagogen. Burrhus F. Skinner (1904 –1990) war ein bedeutender Forscher, dessen Irrtümer die Wissenschaft stark vorantrieben. Als wichtigster Vertreter des Behaviorismus – ein Konzept, das das Verhalten von Tieren und Menschen mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchte – glaubte Skinner, dass alles Lernen nach einem festen Schema im Gehirn ablaufe, nämlich nach dem Muster von Reiz und Reaktion. Danach ist unser Organismus evolutionär auf ein ganz bestimmtes Verhalten geprägt, das unser Fühlen, Denken und Handeln festlegt. Wir reagieren nicht flexibel auf Reize, sondern schematisch. In diesem Sinne ist der Mensch eine Fressmaschine, aber eben auch eine Lernmaschine. Bekommen wir für eine richtige Antwort, Einsicht oder sonstige Leistung ein positives Feedback, so erreichen wir einen Lernfortschritt – und man kann die nächste Aufgabe darauf aufbauen. Der Natur nach, so Skinner, lernen wir » programmiert « , und deshalb müsse auch der Unterricht programmiert werden, durch ein festgeschriebenes Lernprogramm, bei dem man sich in vielen kleinen Schritten in Form von positivem oder negativem Feedback vorwärtsarbeitet. Ähnlich wie bei Washburnes Mastery Learning richtet sich das Lernen allein nach den individuellen Lernfortschritten des Einzelnen und verstärkt dessen Kenntnisse. Eine Schulklasse war damit für Skinner ebenso überflüssig wie Lehrer. Das Einzige, dessen es bedurfte, war ein Lernprogramm oder besser eine » Lehr- und Lernmaschine « .
    Was an diesem Vorschlag Angst macht, ist das völlig maschinelle Menschenbild. All die vielen Vorgänge der Psyche, wo Menschen schwankende Selbsteinschätzungen haben, Launen, Motive wie Ehrgeiz, Stolz, Sympathie oder Empathie, kommen nicht vor. Dass es einen Unterschied im Lernen macht, ob ich mich von Menschen anerkannt, geliebt, geborgen und getragen fühle oder nicht, liegt ebenfalls außerhalb von Skinners Welt. Selbst die Neugier und die intrinsische Motivation sind auf festgelegte Muster reduziert. So individuell das Lernprogramm, so wenig individuell sind Skinners Lernende. Seine Menschen sind programmierte Computer, die mit Computern kommunizieren. Dass all dies in einem Aufsatz geschrieben wurde, der tatsächlich » The science of learning and the art of teaching « ( » Die Wissenschaft des Lernens und die Kunst des Unterrichtens « ) heißt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Denn von einer Kunst des Lehrens kann kaum die Rede sein,

Weitere Kostenlose Bücher