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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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auf eine völlig neue Art so auszubilden, dass sie den Anforderungen einer progressive education auch gewachsen waren. Kaum ein anderer Reformpädagoge erhielt von offizieller Seite je eine so freie Hand, seine Ziele im staatlichen System umzusetzen und dieses zu revolutionieren wie Washburne. Der ökonomische Aufschwung der USA nach dem Ersten Weltkrieg begünstigte den gesellschaftlichen Optimismus. Und die Zeit schien wie geschaffen für eine Bildungsrevolution. Auf das Lehrer-College folgte ein Zentrum mit Psychologen, Sozialarbeitern und Sprachheilpädagogen, um die Persönlichkeiten der Kinder und Lehrer individuell zu coachen. Washburne wurde Präsident der beiden maßgeblichen reformpädagogischen Vereinigungen der USA . Doch als er 1968 starb, war es still um ihn geworden.
    Die revolutionäre Idee, die Washburne berühmt gemacht hatte, war die konsequente Auflösung des Jahrgangsmodells mit einem eigens dafür entwickelten didaktischen Programm. Jahrgangsübergreifende Schulklassen waren nicht neu. Es gab sie ja in Dorfschulen ebenso wie in reformpädagogischen Schulen in Europa. Doch er ging einen Schritt weiter und löste das Problem, wie sich dem persönlichen Lerntempo eines jeden einzelnen Schülers optimal gerecht werden ließ – mit dem Winnetka-Plan (1922) und dem darin entwickelten Konzept des Mastery Learning.
    Als Erstes stellte Washburne eine Übersicht dessen zusammen, was jedes Kind seiner Meinung nach lernen sollte. Das Wichtigste war für ihn der virtuose Umgang mit Sprache, einschließlich einer korrekten Rechtschreibung und guten Lesefähigkeiten. Dazu kam Mathematik, weil man rechnen und abstrakt denken können sollte. In beiden Bereichen ging es seiner Meinung nach weniger um Wissen als um Können. Überzeugt davon, dass jedes Kind Sprache und Rechnen lernen kann, wenn auch in seinem ganz eigenen Tempo, erstellte er umfangreiches Lernmaterial. Dabei ging er nicht nach Jahrgangsklassenzielen vor, sondern strukturierte den Wissensstoff nach Ebenen des Verstehens und Begreifens. Jedes Kind sollte mit diesem Angebot selbstständig lernen und seine Lektionen machen können, und zwar in einem eigenen Lerntempo. Die dafür ausgebildeten Lehrer dienten als Lernbegleiter. Sie gingen von Kind zu Kind, um es nach Bedarf zu unterstützen. Zensuren gab es dabei ebenso wenig wie Sitzenbleiben, denn beides war nun weder möglich noch nötig. Wenn ein Kind sein Lernprogramm abgeschlossen hatte, war es fertig. Und dieses Fertigsein ließ sich nicht mit Zensuren unterteilen. Jeder, der fertig war, hatte im Grunde eine Eins. Zensuren beurteilen eine erbrachte Leistung innerhalb einer bestimmten Zeit, getreu der physikalischen Formel, dass Leistung » Arbeit pro Zeiteinheit « ist. Wenn die Zeit als Beurteilungsmaßstab ausfällt, verlieren Zensuren ihren Sinn.
    Dabei legte Washburne großen Wert darauf, dass nun nicht aller Unterricht aus Stillarbeit mit Lernmaterialien bestand. Er unterschied zwischen individual work und group and creative activities. Der Unterricht am Vormittag galt dem individuellen Lernen mit den Sprach- und Mathe-Lernbüchern. Dabei saßen die Kinder in einem größeren Raum zusammen und konzentrierten sich auf ihre Materialien. Die Lehrer unterstützten sie dabei, und auch die älteren Kinder halfen den jüngeren. Ganz im Gegenteil dazu stand der Nachmittagsunterricht. Hier fanden sich gemischte Gruppen, um gemeinsam unter Begleitung von Lehrern an Projekten zu arbeiten, sei es in Geschichte, Geografie oder in künstlerischen Vorhaben. Dabei konnten die Kinder ihre sozialen Fähigkeiten schulen, ihre Kommunikationsfähigkeiten verbessern, Teamgeist lernen und vieles mehr. Es war sogar möglich und gewünscht, dass sich die Kinder und Jugendlichen selbst Gedanken über neue Projekte machten, um sie dann zusammen durchzuführen.
    Washburne erprobte sein Modell in Winnetka mit so viel Erfolg, dass er in den zwanziger Jahren zur Lichtgestalt der US -amerikanischen Pädagogik wurde. Zahlreiche Schulen druckten seine Lernmaterialien nach und gestalteten den Unterricht nach den Prinzipien des Mastery Learning. Der Vorteil des Modells lag unübersehbar auf der Hand. Statt Lernlücken weiter mit sich herumzuschleppen, wie es bei Jahrgangsklassenzielen so oft der Fall ist, lernen die Kinder nun dicht, kontinuierlich, passend und aufbauend. Genau so, wie Verstehen funktioniert. Das Standardmodell dagegen schreitet unerbittlich voran. Und es kennt auch kein Stopfen von Löchern im Nachhinein.

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