Anna, die Schule und der liebe Gott
stattfindet, einfach nicht funktionieren kann – sodass es eben nicht allzu sehr verwundert, wenn Mathe-Lehrer mitunter zu Zynikern werden oder dazu neigen, ihren Schülern Dummheit zu unterstellen.
Während die Lage in den ersten sechs Schuljahren meist noch nicht eskaliert, wird Mathe so ungefähr mit dem siebten Schuljahr für viele Kinder zum Angstfach. Der Grund ist offensichtlich. In kaum einem anderen Fach entwickeln sich Schüler so heterogen wie hier. Während am oberen Rand Schüler stehen, die in Mathe ohne Schwierigkeit ein bis zwei Klassen überspringen könnten, bleibt das untere Drittel oft hoffnungslos zurück. Einmal aufgerissene Lücken werden mitgeschleppt und nie wieder geschlossen. Denn aufwendige Wiederholungen des Stoffs verbieten sich für den Lehrer im Hinblick auf die besseren Schüler. Wer so lange ausharrt, bis auch der letzte an Bord ist, verfehlt unweigerlich das Klassenziel. Spätestens mit dem siebten Schuljahr ist Mathematikunterricht, so wie wir ihn kennen, entweder unsinnig oder sinnlos. Unsinnig, weil er die Begabten unterfordert, und sinnlos, weil er die Schwachen gar nicht mehr erreicht.
Die Zeit, in der man diese Auslese guten Gewissens als survival of the fittest rechtfertigen konnte, ist heute vorbei. Wer schlechte Noten in Mathematik grundsätzlich für einen Mangel an Intelligenz hält, weiß nicht, wovon er redet, und gehört nicht als Lehrer in die Schule. Und soll jemand, der ein hervorragender Dolmetscher, ein wunderbarer Geschichtslehrer oder ein vorbildlicher Kinderarzt geworden wäre, in der Schule scheitern müssen wegen einer Mathematik, die er in seinem Leben ohnehin niemals braucht? Und das, wo wir heute aus der geburtenschwachen Generation so viele in anspruchsvollen Berufen benötigen?
Für dieses große Dilemma ist Mastery Learning schon fast so etwas wie eine Erlösung für alle Beteiligten. Die Starken in Mathe können nun ohne Rücksicht auf Schwächere ihre Begabung und ihre Interessen verfolgen und möglicherweise noch zu Schulzeiten mehr lernen, als ihre Lehrer es je bei ihnen geschafft hätten. Dabei sind sie auch nicht mehr genötigt, ein bis zwei Klassen zu überspringen, um dann als sozial unreife Außenseiter ihr Dasein am Rand der Klassengemeinschaft zu fristen. Die Universitäten werden es den Bildungspolitikern und Schulleitern danken, dass ihre Studenten in der Schule so weit wie möglich gekommen sind und dabei nicht künstlich ausgebremst wurden. Diejenigen dagegen, die im Mathe-Unterricht gemeinhin daran verzweifeln, dass sie zu den » Schlechten « gehören, können sich nun frei von Druck und Konkurrenz im eigenen Lernrhythmus in Mathe weiterbilden und vielleicht doch noch ihre Liebe zu dieser Wissenschaft entdecken. Und der Lehrer verliert seine undankbare Sandwich-Stellung, die er als Vollzugsbeamter des Lehrplans einmal hatte. Stattdessen wandelt er sich zum Coach, der den Schülern bei ihren Programmen freundlich unterstützend hilft. Man mag sich kaum vorstellen, wie viel Frust und Leid, wie viel Tränen und häuslicher Krach und wie viele Burn-outs den daran Beteiligten damit erspart werden. Und die einzigen wirklichen Verlierer sind die Nachhilfelehrer …
Aber bis wohin muss jeder kommen? Was ist der Level, den jeder Schüler bei seiner Mathe-Software erreichen muss? Ich erinnere mich dazu gern an eine Diskussion mit einem freundlichen älteren Herrn im Herbst 2012 nach einer Veranstaltung in Saarbrücken. Als ehemaliger Ingenieur engagierte er sich in einem begrüßenswerten Projekt zur Förderung der MINT -Fächer an unseren Schulen. Er beklagte aufrichtig das geringe Niveau unserer heutigen Schüler und sorgte sich um den naturwissenschaftlich beschlagenen Nachwuchs, den unsere Wirtschaft so dringend braucht. Sein Fazit war, dass die MINT -Fächer, insbesondere Mathematik, an unseren Schulen mehr Gewicht erhalten sollten und bis zum Abitur Pflichtfach bleiben müssten. Ich schüttelte darüber nur den Kopf und plädierte für das Gegenteil. Mein Gesprächspartner war verwundert. Als Liebhaber der Mathematik verstand er nicht, warum das Niveau in diesem Fach nicht für alle erhöht werden sollte. Ich dagegen erklärte, dass das Niveau gerade dann am meisten steigen würde, wenn viele aus der Pflicht befreit würden.
Wer schlecht in Mathe ist, wird nicht Ingenieur, auch dann (und erst recht) nicht, wenn sich die Anzahl der Mathe-Stunden in der Schule erhöht. Ein Fremdsprachenkorrespondent oder ein Pfarrer sollten zwar gut und
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