Anna, die Schule und der liebe Gott
fix rechnen können, die Zinsberechnung ihres Bankkredits verstehen und die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung internalisiert haben – aber Analysis oder Vektorrechnung sollte man denen überlassen, denen sie liegt und die sie später vielleicht benötigen werden. Und wer allgemein das Abstraktionsvermögen von Schülern steigern möchte, der sollte als Optionen auch Philosophie oder Schachkurse zur Verfügung haben. Denn abstrakt denken zu können und sich in der Welt der Zahlen zu Hause zu fühlen, ist lange nicht das Gleiche.
Viele Jugendliche in der Mittel- und Oberstufe können heute unter anderem deswegen so schlecht Mathe, weil sie – allen Beteuerungen ihrer Mathe-Lehrer zum Trotz – genau wissen, dass sie Algebra und Analysis in ihrem Leben nicht brauchen werden. Und die oft verleugnete Wahrheit lautet: » Ja, das stimmt! « Zwar gibt es gute Argumente, sich an Fragen zu schulen, die nicht unmittelbar praxisrelevant sind, und sicher ist es wenig sinnvoll, jeden Stoff auf Verwertbarkeit zu prüfen. Aber diesbezüglich für alle relevant wäre zum Beispiel eher die anschauliche Geometrie als die unanschauliche Algebra.
Man sollte nicht vergessen, dass das vergleichsweise große Paket an Algebra und Analysis, das unsere Schüler und Jugendlichen speziell auf dem Gymnasium schultern müssen, nicht » von Natur aus « in unseren Lehrplänen so ein Gewicht hat und es früher auch nicht hatte. Die wohl wichtigste Ursache dafür ist die Grundlagenkrise der Mathematik in den dreißiger Jahren, ausgelöst durch Kurt Gödels » Unvollständigkeitssatz « , der die Widerspruchsfreiheit der Mathematik in Frage stellte. In der Folge erarbeiteten französische Mathematiker das unter dem kollektiven Pseudonym » Bourbaki « bekannt gewordene Projekt – eine dogmatische Formalisierung, an deren Folgen viele Mathe-Schüler in Deutschland spätestens seit den sechziger Jahren zu leiden haben und die der bedeutende russische Mathematiker Wladimir Igorewitsch Arnold einmal als ein » Verbrechen an den Studenten « bezeichnete.
All dies bezweifelt nicht die enorme Bedeutung der Analysis für das Ingenieursstudium. Wer es mithilfe der Mathematik zu etwas bringen möchte, muss das können. Aber bestimmt nicht jeder Schüler in der Mittel- oder Oberstufe! Die Lernsoftware, die der ausgewiesene Mathe-Spezialist Salman Khan entwickelt hat, geht einen umgekehrten Weg wie Bourbaki und setzt auf die Förderung mathematischen Eigensinns, auf Intuition und Kreativität. » Viele Lehrer « , so Khan, » versagen darin, in Mathematik, Naturwissenschaft oder den Ingenieurswissenschaften ›kreative‹ Fächer zu sehen. Viele Lehrer glauben, der Sinn von Mathematik und den Naturwissenschaften läge darin, Formeln zu kennen und die ›richtige Antwort‹ zu wissen … Die Wahrheit ist, dass alles Entscheidende in Mathematik, Naturwissenschaften oder Ingenieurskunst das Ergebnis einer starken Intuition und Kreativität ist. « 114
106 Weisband (2013), S. 35 f.
107 Korte (2011), S. 45
108 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, Suhrkamp 1973, S. 19
109 Felten (2012), S. 10
110 Vgl. dazu die Untersuchungen von Guskey/Gates (1986) und Anderson (2000)
111 Khan (2012), S. 6
112 Vgl. Struck (2011), S. 195
113 Vgl. Singer (2009), S. 29
114 Khan (2012), S. 99
Jenseits von Fach und Note
Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal
eingeschlagenen Weg, wenige in Bezug auf das Ziel.
Friedrich Nietzsche
Körper und Geist
Wenn mein Sohn Oskar aus der Schule kommt, springt er herum und wälzt sich erst einmal bis zu einer Stunde lang auf dem Bett. Das angestaute Bewegungsbedürfnis nach einem Tag in der Grundschule ist so hoch, dass er sich erst einmal » abreagieren « muss. Unsere Schulen, so meint Ken Robinson, behandeln Kinder, als seien sie laufende Gehirne und der einzige Sinn des Körpers bestünde darin, den Kopf von einem Ort zum anderen zu transportieren. Ein gutes Licht auf die Schule wirft das nicht. Sollte ein Kind dort nicht als ganzer Mensch vorkommen, mit all seinen elementaren Bedürfnissen? Lernen, Intuitionen haben und kreativ sein sind keine körperlosen Vorgänge. » Gönne dem Knaben zu spielen, in wilder Begierde zu toben, nur die gesättigte Kraft kehret zur Anmut zurück « – dieses Zitat aus Schillers Gedicht » Die Geschlechter « stand eingemeißelt an der Wand vor unserer Turnhalle am Gymnasium. Doch » zu spielen « und » in wilder Begierde zu toben « sind in einer
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