Anna, die Schule und der liebe Gott
Standardschule nur für den Sportunterricht reserviert – falls überhaupt. Und dass es an unseren Schulen Sportunterricht gibt, ist bekanntlich nicht der Einsicht in die Lern- und Entwicklungspsychologie geschuldet, sondern seit den Tagen von Turnvater Jahn den Anforderungen und Bedürfnissen des Militärs.
Dass Sport der Leibesertüchtigung dient und ein gesunder Geist nur in einem gesunden Körper anzutreffen sei, ist ein Allgemeinplatz der Pädagogik. Amüsant daran ist, dass der Satz ursprünglich nicht allzu ernst, sondern in satirischer Absicht formuliert war. Was der römische Dichter Juvenal einst im Scherz meinte, verdrehte das 19. Jahrhundert zwar zum bitteren Ernst, aber die Konsequenzen waren und sind bis heute erschreckend marginal. Denn im Grunde zählt in deutschen Schulen seit Humboldt nur das Kognitive, und alles andere ist alles andere. So müssen Schüler nach der Schule sich im Hüpfen, Fangen und Fußballspielen abreagieren und Lehrer nach Hause joggen, um sich vom Sitzen und Stehen zu erholen, denn in der Schule wird das Wissen um den engen Zusammenhang von Lernen und Bewegung nicht zugelassen. Wo kämen wir denn hin, wenn Schüler neben all ihrem ohnehin schon schwer erträglichen Krach und ihrer Unruhe nun auch noch während des Unterrichts Springen und Laufen würden? Vermutlich kämen wir dann dahin, das Klassenzimmer für mehrere Stunden am Tag geschlossen zu halten, zumindest für Primarschüler einen Tobraum einzurichten und einen Teil des Tages mit Mastery Learning zu verbringen, bei dem es nicht stört, wenn man zwischendurch die Klasse zum Herumtollen verlässt. Mit der schönen Folge, dass in den anderen Stunden die Kinder viel ruhiger und konzentrierter sind!
Der Lernrhythmus ist eine Frage des Stoffwechsels, der Hormone und der Balance von Aktivität und Passivität. Wir unterrichten keine Köpfe, sondern Menschen. » Es ist das wertende Gesamtorgan, mit dem wir der Umwelt gegenübertreten und sie ›verstehen‹ können « , meinte Georg Kerschensteiner. 115 Manche Menschen lernen am besten im Gehen und definitiv am schlechtesten im Sitzen. (Während ich dieses Kapitel schreibe, unterbreche ich mehrmals in der Stunde die Arbeit, um im Zimmer umherzugehen, während mich das Stillsitzen früher in der Klasse erst unruhig und dann irgendwann müde machte; der gesamte Unterricht in der sechsten oder siebten Stunde war damit für mich völlig witzlos.)
Dazu kommt, dass jene Fächer, die bei PISA außen vor gelassen wurden, einen nicht unmaßgeblichen Anteil daran haben, ob Lernen in den PISA -Fächern gelingt oder nicht. » Wer viel Theater spielt, wird gut in Mathematik aufgrund der damit verbundenen Selbstbestätigungen « , berichtet Enja Riegel, die ehemalige Direktorin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. » Sie können sich als erhöhte Selbstwirksamkeit auf andere Fächer ausdehnen.« 116 Natürlich steckt hinter Riegels Erfahrung kein ehernes Naturgesetz des Lernens. Nicht jeder Schüler, der Theater spielt, wird darum zwingend besser in Mathe. Die Pointe liegt darin, dass jede Art von sozialer Praxis den kognitiven Erfolg beeinflusst. Erfahrungen der Bindung und des Teamgeistes, der Bestätigung und der Entfaltung können deshalb großen Einfluss auf die Leistungen in anderen Fächern ausüben. Alles, was dazu beiträgt, jemanden » produktiv « zu machen, beeinflusst das Gesamtbild, das ein Mensch von sich selbst hat. Von der Motivation über die Geduld und die Selbstdisziplin bis zum Ergebnis. Und dieses Selbstbild bestimmt sehr weitgehend über seine Leistungen.
Nach dem Ökonomen Ernst Fehr ist es » schon etwas anderes, rechnen zu können, als sich selber disziplinieren zu können. Aber das eine hängt sehr stark mit dem anderen zusammen. Das geht so weit, dass die gemessenen kognitiven Fähigkeiten von den nicht-kognitiven Fähigkeiten beeinflusst werden. Bei einem IQ -Test zum Beispiel schneiden jene Kinder besser ab, die stärker motiviert sind. Kinder dagegen, die sich weniger gut motivieren können, schneiden schlechter ab, obwohl sie vielleicht gar keinen niedrigeren IQ haben. Kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten lassen sich nie völlig unabhängig voneinander beurteilen. « 117
Nicht-kognitive Fähigkeiten wie Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Fairness und Teamgeist lassen sich nicht in der Theorie lernen, sondern nur in körperlicher Praxis. Man muss sich treffen, sich organisieren, gemeinsam etwas auf die Beine stellen, zusammen musizieren, malen,
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