Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
Vom Netzwerk:
erinnert, wenn das Lernziel nachvollziehbar oder gar spannend ist. Die Erkenntnisse aus dem individualisierten Lernen können hier einfließen und weitere wechselseitige Neugier entfachen. So lassen sich viele Bereiche der Geografie, der Geschichte, der Physik, der Chemie, der Biologie, der Ökonomie und der Politik am besten in Projekten verstehen, die schließlich sogar zu eigenen Projekten führen können.
    Das vierte Prinzip ist die Bindung. Es ist eine gut belegte Einsicht der Lernpsychologie, dass Kinder und Jugendliche umso freudiger und leichter lernen, je stärker sie sich in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlen. Die Frage ist nur, ob dies tatsächlich Jahrgangsklassen sein müssen. Was für die ersten vier bis sechs Schuljahre sicherlich sinnvoll ist, sollte nicht für die gesamte Schulzeit gelten müssen. Spätestens mit dem siebten Schuljahr finden sich Freundschaften auch schnell jahrgangsübergreifend (die älteren Jungen sind ohnehin interessanter für die Mädchen). Freunde schützen und helfen, sozial schwierige Situationen abzufedern und besser zu meistern. Wichtiger als das genau gleiche Alter sind dabei ähnliche Interessen, die sich zu Lernteams organisieren lassen und Freundschaften begünstigen. Man sollte hier keiner allzu romantischen Idee von Klassengemeinschaften nachhängen – selbst wenn es gute Klassengemeinschaften gibt, so gleichen sie zumeist doch eher Notgemeinschaften als Wahlverwandtschaften. Und nahezu jede dieser Jahrgangsklassen kennt ihre Außenseiter und Zu-kurz-Gekommenen. Freundschaften klassenübergreifend zu schließen und auszuleben, geht im neuen Modell entschieden leichter.
    Das fünfte Prinzip besteht darin, an unseren Schulen eine Beziehungs- und Verantwortungskultur zu schaffen – und zwar nicht nur rhetorisch, sondern organisatorisch. In einer konventionellen Schule gibt es einen Schulleiter und darunter ein Kollegium von vielleicht hundert Lehrern. Eine intensive Arbeitsbeziehung zwischen Schulleitung und Lehrern entsteht auf diese Weise eher selten oder gar nicht; man kennt sich oft nur flüchtig. Das Gleiche gilt für das Verhältnis von Lehrern und Schülern. Der Chemielehrer, der eine Klasse für ein Jahr unterrichtet und im nächsten Jahr eine andere übernimmt, hat kaum die Möglichkeit, mehr über seine Schüler zu erfahren, geschweige denn sich persönlich für sie verantwortlich zu fühlen. Deshalb ist es notwendig, den Schulkörper zu untergliedern in einzelne Lernhäuser. Von der ersten bis zur zehnten Klasse gehören die Schüler des Zuges A einem Lernhaus an, die Schüler des Zuges B einem anderen und so weiter. Jedes Lernhaus wird von einem Lernhausleiter betreut und verantwortet. Der Schulleiter bekommt damit Ansprechpartner auf einer Zwischenebene, die alle gut ihr Haus kennen, darunter die Schüler wie die Lehrer. Statt mit einem anonymen Lehrerkollegium haben wir es nun mit mehreren kleineren Kollegien zu tun, die als Teams in den Lernhäusern verortet sind. Die Schüler behalten diese Lehrer von der ersten bis zur zehnten Klasse, sodass sich echte Beziehungen und wirkliches Verantwortungsgefühl entwickeln können. Kompetition, die durch den Wegfall des Ziffernsystems nicht mehr innerhalb einer Jahrgangsklasse stattfindet, gibt es jetzt als spielerischen Wettbewerb zwischen den Lernhäusern, die auf Vorleseturnieren oder im Kopfrechnen gegeneinander antreten können, wenn sie mögen.
    Ein sechstes Prinzip besteht darin, Werte und Wertschätzung zu fördern. Damit Schüler sich mit ihrer Schule beziehungsweise mit ihrem Lernhaus identifizieren, muss es Zeichen und Strukturen geben, die diese Schule und das jeweilige Lernhaus zu etwas » Besonderem « machen, etwas Unverwechselbarem. Wer sich seiner Schule gern zugehörig fühlt, vielleicht sogar stolz auf sie ist, wird sich normalerweise auch anders gegenüber Lehrern und Mitschülern verhalten. Die Schule kann dazu beitragen, indem sie Rituale pflegt, die den Schulalltag strukturieren und bestimmte Ereignisse hervorheben. Solche Rituale sind umso notwendiger, je weniger die Elternhäuser der Kinder noch Rituale haben (wie feste Mahlzeiten, religiöse Feste, regelmäßiges Beisammensein etc.). Hier kann die Schule helfen, den Sinn für Strukturen und Bedeutsamkeiten zu pflegen. Sie tun nicht nur dem Zusammenleben gut, sondern gehören zu jedem erfüllten Leben dazu.
    Aus einem augenscheinlichen Nichts Bedeutungen zu erzeugen, gehört zu den großartigsten Fähigkeiten des Menschen. Sie machen

Weitere Kostenlose Bücher