Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
nicht erfahren genug, um den Kreis zu schließen und den Spruch zu wirken.«
»Kannst du sie nicht vorübergehend aufhalten, während das einer von uns übernimmt? Sobald es erledigt ist, sind wir geschützt.«
»Nein«, widerspricht Carmel. »Das geht nicht. Ihr hättet ihn heute Morgen sehen sollen. Sie hat ihn verscheucht wie eine lästige Fliege.«
»Danke«, schnaube ich.
»Es ist wahr. So kann Thomas es nicht schaffen. Schließlich muss er sich dabei doch konzentrieren oder so.«
Will springt vor und packt Carmel am Arm. »Was redest du da? Du warst in dem Haus? Bist du verrückt? Mike würde mich umbringen, wenn er hört, dass dir etwas zugestoßen ist.«
Zu spät fällt ihm ein, dass Mike tot ist.
»Wir müssen einen Weg finden, den Schutzkreis einzurichten und den Spruch zu wirken«, denke ich laut nach. »Freiwillig wird sie mir nicht verraten, was ihr zugestoßen ist.«
Endlich ergreift auch Morfran das Wort. »Alles geschieht aus einem bestimmten Grund, Theseus Cassio. Du hast weniger als eine Woche, um es herauszufinden.«
Weniger als eine Woche. Weniger als eine Woche. In knapp einer Woche kann ich kein fähiger Hexer werden, und ich werde bis dahin auch bestimmt nicht besser als jetzt in der Lage sein, Anna zu kontrollieren. Ich brauche Unterstützung. Ich muss Gideon anrufen.
Wir haben die Küche verlassen und stehen in der Einfahrt. Es ist Sonntag, ein ruhiger, träger Sonntag. Es ist früh, noch nicht einmal die Kirchgänger sind
unterwegs. Carmel geht mit Will zu den Autos. Sie will mit zu ihm nach Hause fahren und ihm ein wenig Gesellschaft leisten. Schließlich hätten sie beide dem Toten nahegestanden, und Chase sei in so einer Situation vermutlich keine große Hilfe. Ich glaube, sie hat recht. Vorher hat sie Thomas zur Seite genommen und kurz mit ihm getuschelt. Als Carmel und Will fort sind, frage ich ihn, was sie gesagt hat.
Er zuckt mit den Achseln. »Sie ist froh, dass ich es ihr erzählt habe. Sie hofft, du bist mir nicht böse, weil ich es verraten habe, und sie wird das Geheimnis hüten. Sie will wirklich nur helfen.« Er redet immer weiter und macht mich auf die Art und Weise aufmerksam, wie sie ihn am Arm berührt hat. Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt, denn jetzt hört er nicht mehr auf.
»Hör mal«, sage ich schließlich. »Ich bin froh, dass Carmel dich wahrgenommen hat. Wenn du dich richtig verhältst, hast du vielleicht eine Chance. Aber lies nicht so oft ihre Gedanken, das fand sie ziemlich unheimlich.«
»Ich und Carmel Jones«, spottet er, sieht dabei aber sehnsüchtig ihrem Wagen nach. »In einer Million Jahren nicht. Eher wird sie Will trösten. Er ist schlau und gehört zu der gleichen Clique wie sie. Außerdem ist er gar kein so übler Bursche.« Thomas rückt seine Brille zurecht. Thomas ist auch kein übler Bursche, das wird er vielleicht eines Tages sogar selbst merken. Jetzt sage ich ihm erst einmal, dass er sich anziehen soll.
Als er sich umdreht und hineingeht, fällt mir etwas auf. In der Nähe des Hauses verläuft ein kreisrunder
Fußweg, der am Ende der Zufahrt beginnt. An der Gabelung steht ein kleiner weißer Baum, ein Buchenschössling. Am untersten Ast hängt ein schlankes, schwarzes Kreuz.
»He«, rufe ich und deute darauf. »Was ist das denn da?«
Nicht er antwortet mir. Morfran watschelt in Pantoffeln und blauer Schlafanzughose auf die Veranda heraus. Den dicken Bauch verhüllt ein karierter Morgenrock. Der zu Zöpfen geflochtene verfilzte Rockerbart bildet einen skurrilen Gegensatz dazu, aber das ist mir jetzt egal.
»Das ist Papa Legbas Kreuz«, sagt er einfach nur.
»Du praktizierst Voodoo«, sage ich, und er brummt etwas, das ich für eine Zustimmung halte. »Ich auch.«
Er schnaubt in die Kaffeetasse. »Nein, tust du nicht, und du solltest es auch nicht tun.«
Na gut, es war nur ein Bluff. Ich praktiziere nicht, ich lerne noch, und hier ergibt sich dafür eine wundervolle Gelegenheit. »Warum sollte ich das nicht tun?«, frage ich.
»Junge, Voodoo hat mit Macht zu tun. Es geht um die Macht in dir und um die Macht, die du kanalisierst. Die Macht, die du stiehlst, und die du aus deinem verdammten Hühnchen zum Abendessen beziehst. Und du hast in dem Stück Leder da eine Ladung von zehntausend Volt.«
Unwillkürlich taste ich nach dem Athame in der Gesäßtasche.
»Würdest du Voodoo praktizieren und diese Energie
kanalisieren, dann sähest du aus wie eine Motte, die in einer elektronischen Falle verbrutzelt. Du stündest
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