Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
»Mehr kann ich dir nicht sagen! Ich wurde getötet, es war dunkel, und ich kam wieder zu mir. Auf einmal war ich dies hier, und ich habe getötet, immer wieder getötet, und konnte nicht damit aufhören.« Ihr stockt der Atem. »Sie haben etwas mit mir gemacht, aber ich weiß nicht, was es ist und wie sie es gemacht haben.«
»Sie«, wiederhole ich neugierig, aber sie erzählt mir nichts mehr. Ich kann sehen, wie sie sich innerlich verschließt, und in ein paar Minuten werde ich mit einem Mädchen reden, das schwarze Adern hat und dessen Kleid tropfnass ist.
»Es gibt einen Zauberspruch«, sage ich. »Einen Zauberspruch, der mir helfen kann, es zu verstehen.«
Sie beruhigt sich ein wenig und sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Ein Zauberspruch?« Sie lächelt ungläubig. »Wachsen mir dann Feenflügel, und ich kann durchs Feuer springen?«
»Was redest du da?«
»Magie ist nicht real. Es ist reine Einbildung und
Aberglaube. Wie die alten Flüche meiner finnischen Großmütter.«
Ich kann nicht glauben, dass sie die Existenz der Magie bestreitet, während sie tot vor mir steht und trotzdem redet. Allerdings bekomme ich keine Gelegenheit mehr, sie zu überzeugen, weil auf einmal etwas passiert. Irgendetwas in ihr verändert sich, und sie zuckt zusammen. Dann blinzelt sie und starrt ins Leere.
»Anna?«
Sie hebt den Arm und weist mich zurück. »Es ist nichts weiter.«
Ich sehe genauer hin. »Doch, da war etwas. Du hast dich an etwas erinnert, oder? Was war es? Sag es mir!«
»Nein, ich … Es war nichts. Ich weiß nicht.« Sie fasst sich an die Schläfe. »Ich weiß nicht, was es war.«
Das wird nicht einfach. Es ist sogar so gut wie unmöglich, wenn sie nicht mitarbeitet. Eine mutlose Schwere macht sich in meinen erschöpften Gliedmaßen breit. Als bekäme ich Muskelschwund, und das, obwohl ich eigentlich gar keine Muskeln habe.
»Bitte, Anna«, dränge ich. »Ich brauche deine Hilfe. Du musst uns den Zauberspruch wirken lassen. Du musst mir erlauben, andere Leute hierherzubringen.«
»Nein«, erwidert sie. »Keine Zaubersprüche und keine anderen Leute. Du weißt doch, was passieren würde. Ich kann es nicht kontrollieren.«
»Du kannst es für mich, dann kannst du es auch für sie.«
»Mir ist gar nicht klar, warum ich dich nicht töten
muss. Reicht dir das denn nicht? Warum verlangst du noch mehr von mir?«
»Anna, bitte, ich brauche mindestens Thomas und wahrscheinlich auch Carmel. Sie ist das Mädchen, das du heute Morgen gesehen hast.«
Sie starrt ihre Zehen an. Sie ist traurig, das weiß ich, aber mir klingt immer noch Morfrans Bemerkung im Ohr, ich hätte weniger als eine Woche Zeit, und ich will es hinter mich bringen. Ich kann Anna nicht noch einen Monat so weitermachen lassen, damit sie noch weitere Tote im Keller sammelt. Es ist egal, dass ich gern mit ihr rede. Es ist egal, dass ich sie mag. Es ist egal, dass ihr ein großes Unrecht geschehen ist.
»Ich wünschte, du würdest gehen«, sagt sie leise. Dann hebt sie den Kopf, und ich sehe, dass sie beinahe weint. Sie blickt über meine Schulter hinweg zur Tür oder vielleicht zum Fenster hinaus.
»Du weißt, dass ich das nicht kann«, wiederhole ich das, was sie gerade vorher selbst gesagt hat.
»Du weckst in mir eine Sehnsucht nach Dingen, die ich nicht haben kann.«
Ehe ich ergründen kann, was sie damit meint, sinkt sie durch die Treppenstufen hinab, tief hinab in den Keller. Sie weiß, dass ich ihr dorthin nicht folgen werde.
Kurz nachdem Thomas mich zu Hause abgesetzt hat, ruft Gideon an.
»Guten Morgen, Theseus. Tut mir leid, dass ich dich an einem Sonntag so früh wecke.«
»Ich bin schon seit Stunden auf und eifrig bei der Arbeit, Gideon.« Ich höre förmlich, wie er grinst. Als ich das Haus betrete, nicke ich meiner Mutter zu, die gerade Tybalt die Treppe hinunterscheucht und ihm wütend erklärt, dass Ratten nicht gut für ihn seien.
»Wie schade«, kichert Gideon. »Ich warte schon seit Stunden darauf, dass ich dich anrufen kann, weil ich dich ausschlafen lassen wollte. Das war sehr anstrengend. Hier ist es fast vier Uhr am Nachmittag. Ich glaube, ich habe die wesentlichen Teile deines Zauberspruchs beisammen.«
»Ich weiß nicht, ob ich ihn überhaupt noch brauche. Ich wollte dich nachher sowieso anrufen. Es gibt ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
»Das Problem ist, dass außer mir niemand das Haus betreten kann, und ich bin kein Hexer.« Ich berichte ihm, was sich zugetragen hat, lasse
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