Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
möglichst schnell hinter mich zu bringen, als wollte ich mit einem Ruck ein Heftpflaster abreißen.
»Ich weiß, dass du 1958 im Alter von sechzehn Jahren ermordet wurdest. Jemand hat dir die Kehle durchgeschnitten, als du zu einem Tanzabend in der Schule unterwegs warst.«
Ein Lächeln spielt um ihre Lippen und verfliegt gleich wieder. »Ich wollte so gern hingehen«, sagt sie leise. »Es sollte das letzte Mal sein. Das erste und das letzte Mal.« Sie blickt an sich hinab und lupft den Rocksaum. »Das war mein Kleid.«
Mir kommt es nicht so vor, als wäre es etwas Besonderes. Einfach nur ein weißes Ding mit etwas Spitze und ein paar Bändern. Aber was weiß ich schon? Ich bin kein Mädchen und habe keinen Schimmer von der Mode im Jahr 1958. Damals war das Kleid vielleicht der große Hit, wie meine Mom es immer ausdrückt.
»Es macht nicht viel her«, fährt sie fort, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Unter unseren Pensionsgästen war eine Schneiderin. Sie hieß Maria und kam aus Spanien. Ich fand sie sehr exotisch. Sie hat eine Tochter zurücklassen müssen, die ein wenig jünger
war als ich, und sprach deshalb gern mit mir. Sie hat bei mir Maß genommen und mir geholfen, es zu nähen. Ich wollte etwas Elegantes haben, konnte aber nicht gut nähen. Meine Finger waren zu ungeschickt.« Sie hebt sie, als könnte ich sofort erkennen, welches Durcheinander sie angerichtet haben.
»Du siehst schön aus«, sage ich, weil es das Erste ist, was in meinem dummen, leeren Kopf auftaucht. Ich spiele mit dem Gedanken, mir mit dem Athame die Zunge abzuschneiden. Wahrscheinlich war es nicht das, was sie hören wollte, und es kam ganz falsch heraus. Meine Stimme gehorcht mir nicht richtig, aber wenigstens bricht sie nicht wie bei Peter von der Brady Family. »Warum sollte es denn dein letzter Tanzabend sein?«, frage ich rasch.
»Ich wollte weglaufen.« Ihre Augen blitzen trotzig, wie sie vielleicht damals geblitzt haben. In ihren Worten schwingt eine Leidenschaft mit, die mich traurig stimmt. Dann ist es vorbei, und sie scheint nur noch verwirrt. »Ich weiß nicht, ob ich es wirklich getan hätte. Jedenfalls wollte ich es.«
»Warum?«
»Ich wollte mein eigenes Leben führen«, erklärt sie. »Ich wusste, dass ich es nie zu etwas bringen würde, wenn ich hier bleibe. Irgendwann hätte ich die Pension geleitet. Außerdem war ich diese Kämpfe leid.«
»Kämpfe?« Ich mache einen Schritt auf sie zu. Die schwarzen Strähnen fallen über ihre Schultern herab, als sie die Arme um sich schlingt. Sie ist so bleich und zierlich. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sie gegen
jemanden kämpft. Jedenfalls nicht mit den Fäusten.
»Es waren keine richtigen Kämpfe«, sagt sie. »Oder irgendwie doch. Mit ihr und mit ihm. Ich habe mich versteckt und sie glauben lassen, ich sei schwächer, weil sie mich so haben wollten. Sie hat mir gesagt, das hätte mein Vater so gewollt. Ein stilles, gehorsames Mädchen und keine Dirne. Keine Hure.«
Ich hole tief Luft und frage, wer sie so genannt und wer ihr solche Vorwürfe gemacht hat, aber sie hört nicht mehr zu.
»Er war ein Lügner und Faulenzer. Er hat so getan, als liebte er meine Mutter, aber das war nicht echt. Er sagte mir, er werde sie heiraten, und dann würde er auch alles andere bekommen.«
Ich weiß nicht, über welchen Kerl sie redet, kann mir aber vorstellen, was »alles andere« war.
»Du warst es«, sage ich leise. »Er hatte es in Wirklichkeit auf dich abgesehen.«
»Er hat … er hat mich bedrängt. In der Küche oder draußen am Brunnen. Ich war wie gelähmt. Ich habe ihn gehasst.«
»Warum hast du es nicht deiner Mutter gesagt?«
»Ich konnte nicht …« Sie unterbricht sich, setzt noch einmal an. »Aber ich konnte es auch nicht zulassen. Ich musste weg. Ich wäre weggegangen.« Ihre Miene ist leer, nicht einmal die Augen leben. Die Lippen bewegen sich wie bei einem Automaten, und ich höre ihre tonlose Stimme. Der Rest von ihr hat sich verkrochen.
Ich strecke die Hand aus und berühre sie an der Wange. Ihre Haut ist eiskalt. »War er es? Hat er dich getötet? Ist er dir an diesem Abend gefolgt und hat …«
Anna schüttelt rasch den Kopf und weicht zurück. »Das reicht«, sagt sie mit einer Stimme, die fest sein soll.
»Anna, ich muss es wissen.«
»Warum musst du es wissen? Was geht dich das an?« Sie legt sich eine Hand auf die Stirn. »Ich weiß es selbst kaum noch. Alles ist so verworren und voller Blut.« Sie schüttelt frustriert den Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher