Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
schwächst du sie damit sogar so sehr, dass du den Job zu Ende bringen kannst.«
Ich schlucke schwer und spüre das Messer in der Gesäßtasche. »Das wäre gut«, antworte ich. Ich höre noch zehn Minuten zu, während er mir die Einzelheiten beschreibt, dabei denke ich die ganze Zeit an Anna und frage mich, was sie mir zeigen wird. Am Ende habe ich mir hoffentlich alles Wichtige eingeprägt,
was ich tun muss, aber ich bitte ihn trotzdem um eine E-Mail mit einer Zusammenfassung.
»Wer kann für euch den Kreis vervollständigen? Am besten ist jemand geeignet, der eine Verbindung zu dem Geist hat.«
»Ich nehme diesen Will und meine Freundin Carmel mit«, entscheide ich. »Und sag kein Wort dazu. Ich habe diesmal große Schwierigkeiten, die Leute aus der Sache herauszuhalten.«
Gideon seufzt. »Ach, Theseus, niemand hat gesagt, dass du dich absondern sollst. Dein Vater hatte viele Freunde und außerdem deine Mutter und dich. Im Laufe der Zeit wird dein Freundeskreis größer werden. Dafür muss man sich nicht schämen.«
Der Kreis wird größer. Warum sagen mir das alle immer wieder? In einem großen Kreis sind mehr Leute, über die man stolpern kann. Ich muss aus Thunder Bay verschwinden. Weg von diesem Durcheinander und zurück zu meiner alten Routine: hinfahren, jagen, töten.
Hinfahren, jagen, töten. Genau wie waschen, spülen, aufhängen. Mein Leben ist eine einfache Routine, und es fühlt sich leer und zugleich bedrückend an. Ich denke an das, was Anna gesagt hat – dass sie etwas will, das sie nicht haben kann. Vielleicht begreife ich allmählich, was sie meinte.
Gideon redet immer noch.
»Sag mir Bescheid, wenn du sonst noch etwas brauchst«, fordert er mich auf. »Allerdings hocke ich leider auf einem anderen Kontinent und habe nur
staubige Bücher und alte Geschichten, also musst du die Hauptarbeit selbst erledigen.«
»Ja. Zusammen mit meinen Freunden.«
»Ja. Großartig. Eines Tages bist du wie einer der vier Männer in diesem Film. Du weißt schon, der mit dem übergroßen Marshmallow.«
Sehr witzig.
Meine Mom und ich sitzen in ihrem Auto, das sie am Rand des Schulparkplatzes abgestellt hat. Wir sehen zu, wie Busse herbeirollen und halten, damit die Schüler auf den Gehweg springen und durch die Türen hineinrennen können. Der Ablauf erinnert mich an eine Fabrik – eine Art rückwärts laufende Flaschenfabrik.
Ich habe ihr erzählt, was Gideon mir gesagt hat, und sie um Hilfe bei der Kräutermischung gebeten. Sie hat es mir versprochen, scheint aber ein wenig neben der Spur zu sein. Unter den Augen hat sie dunkelblaue Ringe, und ihr Haar ist stumpf. Normalerweise glänzt es wie eine Kupferschale.
»Alles klar, Mom?«
Sie lächelt und mustert mich. »Alles klar, mein Junge. Ich mache mir nur Sorgen um dich, wie immer. Und um Tybalt. Letzte Nacht bin ich davon wachgeworden, dass er gegen die Klapptür des Dachbodens gesprungen ist.«
»Verdammt, tut mir leid«, sage ich. »Ich habe vergessen, raufzugehen und die Fallen aufzustellen.«
»Schon gut. Letzte Woche habe ich dort oben etwas gehört, das erheblich größer war als eine Ratte. Können Waschbären auf Dachböden gelangen?«
»Vielleicht sind es mehrere Ratten«, überlege ich, worauf sie schaudert. »Lass doch jemanden kommen, der es sich ansieht.«
Sie tippt seufzend auf das Lenkrad. »Vielleicht.« Dann zuckt sie mit den Achseln.
Sie wirkt traurig, und mir fällt ein, dass ich gar nicht weiß, wie sie hier zurechtkommt. Bei diesem Umzug habe ich ihr kaum geholfen – nicht im Haus und auch sonst nicht –, weil ich ständig unterwegs war. Ich blicke zum Rücksitz, wo die verzauberten bunten Kerzen liegen, die in einem Buchladen verkauft werden sollen. Normalerweise hätte ich sie abgepackt, mit farbigen Schnüren zusammengebunden und etikettiert.
»Gideon sagt, du hättest ein paar Freunde gefunden.« Sie beobachtet die Schüler, als könnte sie die Betreffenden erkennen. Ich hätte mir gleich denken können, dass Gideon plaudern würde. Er ist eine Art Ersatzvater. Kein Stiefvater, sondern eher wie ein Patenonkel, oder wie ein Seepferdchen, das mich in die Bauchtasche stecken will.
»Nur Thomas und Carmel«, entgegne ich. »Du hast sie ja schon kennengelernt.«
»Carmel ist ein sehr hübsches Mädchen«, sagt sie hoffnungsvoll.
»Das findet Thomas auch.«
Sie seufzt, dann lächelt sie. »Schön. Die kundigen Finger einer Frau könnten ihm guttun.«
»Mom«, stöhne ich. »Benimm dich.«
»So meinte ich das
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