Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Ich bin völlig erschöpft und schleppe mich nur noch dahin. Das kann eigentlich nicht sein, weil ich in der vergangenen Nacht geschlafen habe wie ein Stein. Wahrscheinlich zum ersten Mal seit Wochen.
Dann macht es »klick«.
»Die Albträume«, sage ich. »Sie sind schlimmer geworden, seit wir hier sind.«
»Was für Albträume?«, fragt Thomas.
»Ich dachte, es wären nur Träume. Jemand beugt
sich über mich. Aber es war die ganze Zeit eine Art Vorbote.«
»Was meinst du damit?«, fragt Carmel.
»Ein Wachtraum oder so. Prophetische Träume, ein Blick in die Zukunft. Eine Warnung.« Diese knirschende Stimme, die aus der Erde kam und mich durchdrang wie eine Kettensäge. Dieser Akzent aus den Südstaaten oder der Karibik. »Da war auch ein Geruch.« Ich rümpfe die Nase. »Eine Art süßer Rauch.«
»Cas«, sagt Anna besorgt. »Ich habe Rauch gerochen, als dein Athame mich geschnitten hat. Du hast mir gesagt, es sei vielleicht nur die Erinnerung an Elias’ Pfeife. Aber wenn es das nicht war?«
»Nein«, widerspreche ich und erinnere mich im gleichen Augenblick an einen Albtraum. Du hast den Athame verloren, hat das Ding gesagt. Du hast ihn verloren, hat es gesagt, mit einer Stimme wie verfaulte Pflanzen und Rasierklingen.
Die Angst kriecht mir mit kalten Fingern am Rücken hoch. Ich versuche krampfhaft, eine Verbindung herzustellen, und zermartere mir das Gehirn. Das Wesen, das meinen Vater getötet hat, war eine Voodoo-Erscheinung. So viel weiß ich schon lange. Aber was ist Voodoo eigentlich genau?
Knapp außerhalb meiner Reichweite wartet das Wissen auf mich. Es hat etwas mit dem zu tun, was Morfran gesagt hat.
Carmel hebt die Hand wie im Unterricht.
»Hier spricht die Stimme der Vernunft«, verkündet sie. »Was das Wesen auch ist, und wie auch immer es
mit dem Dolch, mit Cas oder Cas’ Vater verbunden ist oder auch nicht, es hat mindestens zwei Menschen getötet und halb aufgefressen. Was wollen wir jetzt tun?«
Schweigen senkt sich über den Raum. Ohne mein Messer bin ich zu nichts zu gebrauchen. Gut möglich, dass dieses Wesen Will den Athame abgenommen hat, und das würde bedeuten, dass ich Thomas und Carmel in eine grandiose Klemme manövriert habe.
»Ich habe den Dolch verloren«, murmele ich.
»Fang nicht wieder damit an«, wirft Anna ein. Sie wendet sich abrupt von mir ab. »Artus war auch ohne Excalibur immer noch Artus.«
»Ja«, stimmt Carmel sofort zu. »Wir haben zwar nicht diesen Athame, aber wenn ich mich nicht irre, haben wir ihre Unterstützung«, sie nickt in Annas Richtung, »und das ist doch schon mal was. Will und Chase sind tot. Wir wissen, wer es war. Wir könnten die Nächsten sein. Also lasst uns eine Wagenburg bauen und etwas unternehmen!«
Fünfzehn Minuten später sitzen wir alle im Tempo, und zwar alle vier – Thomas und ich sind vorne, Carmel und Anna hinten. Ich frage mich, warum wir eigentlich nicht Carmels größeren, zuverlässigeren und unauffälligeren Audi genommen haben, aber so geht das eben, wenn man in fünfzehn Minuten einen Plan aushecken muss. Nur, dass wir im Grunde gar keinen Plan haben, weil wir keinen Schimmer haben, was passiert ist. Ich meine, wir haben Vermutungen –
ich habe sogar mehr als eine Vermutung –, aber wie können wir wirklich Pläne schmieden, wenn wir im Grunde nicht wissen, was für ein Wesen es ist und was es will?
Statt uns über das Sorgen zu machen, was wir nicht wissen, kümmern wir uns lieber um die Dinge, die wir regeln können. Wir müssen den Athame finden. Wir müssen ihn mithilfe von Magie aufspüren, was nach Thomas’ Ansicht möglich ist, wenn Morfran uns hilft.
Anna hat darauf bestanden mitzukommen, denn trotz ihrer Bemerkung über König Artus weiß sie anscheinend ganz genau, wie wehrlos ich bin. Im Übrigen ist mir nicht ganz klar, wie gut sie die Artussage wirklich kennt, denn der nichts ahnende König wurde nach einer der vielen Überlieferungen von einem Geist aus der Vergangenheit getötet. Ich will ihn mir lieber nicht zum Vorbild nehmen. Vor unserem Aufbruch haben wir kurz darüber diskutiert, ob wir uns Alibis ausdenken sollen, falls uns die Polizei befragt, nachdem sie Will und Chase entdeckt haben. Den Gedanken haben wir rasch wieder fallen lassen. Warum soll man sich über ein Alibi Gedanken machen, wenn man in den nächsten paar Tagen gefressen werden kann?
In den Muskeln habe ich ein seltsames, federndes Gefühl. Trotz allem, was geschehen ist – Mikes Tod, der Anblick von Annas
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