Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
denn?« Es klingt beinahe müde, als hätte sie schon mit schlechten Nachrichten gerechnet. Wahrscheinlich rechnet sie ständig mit schlechten Nachrichten. Sie weiß ja, was ich so treibe. »Nun?«
Ich weiß nicht, wie ich es ihr beibringen soll. Vielleicht rastet sie aus, das wäre durchaus verständlich. Ich starre in ein sehr besorgtes und erregtes mütterliches Gesicht.
»Theseus Cassio Lowood, nun spuck es endlich aus.«
»Mom«, sage ich, »du darfst jetzt nicht ausflippen.«
»Nicht ausflippen?« Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Was ist los? Ich fange gerade ein paar sehr merkwürdige Schwingungen auf.« Ohne mich aus den Augen zu lassen, marschiert sie aus der Küche und schaltet den Fernseher ein.
»Mom«, stöhne ich, aber es ist schon zu spät. Auf dem Bildschirm erscheinen blinkende Einsatzleuchten der Polizei, in einer Ecke sind Schulfotos von Will und Chase eingeblendet. Also ist es inzwischen herausgekommen. Cops und Reporter huschen über die Wiese wie Ameisen, die eine Sandwichkruste wittern und sie zerlegen und in den Bau schleppen wollen.
»Was ist da los?« Sie legt sich eine Hand auf den Mund. »Oh, Cas, hast du die Jungs gekannt? Wie schrecklich. Bist du deshalb nicht in der Schule? Haben sie euch freigegeben?«
Sie gibt sich große Mühe, mir nicht in die Augen
zu blicken. Als Erstes hat sie zwar die ganz normalen Fragen gestellt, aber sie weiß natürlich, worum es geht. Sie kann sich nicht einmal selbst etwas vormachen. Nach ein paar Sekunden schaltet sie den Fernseher wieder aus und nickt langsam, während sie es verdaut.
»Sag mir, was passiert ist.«
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
»Versuche es wenigstens.«
Also erzähle ich es ihr. Dabei lasse ich so viele Einzelheiten wie möglich aus, nur die Bisswunden beschreibe ich. Als ich sie erwähne, hält sie den Atem an.
»Glaubst du, es war ein und derselbe?«, fragt sie. »Derjenige, der …«
»Ich weiß, dass er es war. Ich fühle es.«
»Aber du bist nicht sicher.«
»Mom, ich weiß es.« Ich spreche es ganz behutsam aus. Sie hat die Lippen so fest zusammengepresst, dass man sie nicht mehr sieht. Es scheint, als müsste sie gleich weinen oder so.
»Warst du in dem Haus? Wo ist der Athame?«
»Das weiß ich nicht. Bleib ruhig. Wir brauchen deine Hilfe.«
Sie sagt nichts. Eine Hand hat sie sich auf die Stirn gelegt, die andere in die Hüfte gestemmt. Sie starrt ins Leere. Auf der Stirn bildet sich eine kleine Falte, weil sie unter Stress steht.
»Hilfe«, sagt sie leise. Dann noch einmal, mit härterer Stimme: »Hilfe.«
Hoffentlich habe ich sie nicht in eine Art Überlastungskoma gestürzt.
»Na gut«, sage ich sanft. »Dann bleib hier. Ich schaffe das schon, Mom. Ich verspreche es.«
Anna wartet draußen, und wer weiß, was gerade im Antiquitätenladen passiert. Es kommt mir so vor, als wäre ich schon Stunden unterwegs, dabei waren es kaum mehr als zwanzig Minuten.
»Pack deine Sachen.«
»Was?«
»Du hast es gehört. Pack deine Sachen. Sofort. Wir fahren weg.« Sie stürzt an mir vorbei und rennt die Treppe hinauf, um sofort anzufangen. Ich folge ihr stöhnend. Dazu haben wir jetzt keine Zeit. Sie muss sich beruhigen und bei Sinnen bleiben. Meinetwegen kann sie meine Sachen zusammenpacken und in Kisten stecken. Sie kann alles in einen Umzugswagen laden. Aber ich werde erst aufbrechen, wenn der Geist erledigt ist.
»Mom«, sage ich und folge dem wehenden Strickmantel in mein Zimmer. »Könntest du dich bemühen, jetzt nicht auszurasten?« Ich halte inne. Ihre Effizienz beim Packen ist unvergleichlich. Alle meine Socken haben bereits die Schublade verlassen und sind auf der Kommode ordentlich aufgetürmt. Die gestreiften liegen sogar auf einem eigenen Stapel.
»Wir hauen ab«, sagt sie, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten. »Und wenn ich dich bewusstlos schlagen und aus dem Haus schleppen muss, wir brechen sofort auf.«
»Mom, nun beruhige dich doch.«
»Versuch nicht, mich zu beruhigen!« Es ist eine Art
kontrollierter Schrei, der tief aus ihrem angespannten Bauch kommt. Die Hände in die halb geleerte Schublade gesteckt, hält sie plötzlich inne. »Dieses Wesen hat meinen Mann getötet.«
»Mom.«
»Es soll nicht auch noch dich kriegen.« Hände, Socken und Boxershorts fliegen durch die Luft. Ich wünschte, sie hätte nicht ausgerechnet mit meiner Unterwäsche begonnen.
»Ich muss das unterbinden.«
»Lass das jemand anders tun«, faucht sie. »Ich hätte es dir gleich sagen
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