Anna Karenina
nichts würde
antworten lassen.
»Du sagst, das sei nicht recht gehandelt? Aber man muß das ruhig erwägen«, fuhr sie fort. »Du vergißt meine
Lage. Wie kann ich mir Kinder wünschen? Ich rede nicht von den körperlichen Leiden; die fürchte ich nicht. Aber
sage selbst: was würden meine Kinder sein? Unglückliche Wesen, die einen fremden Namen tragen müßten. Ihre Geburt
würde sie von vornherein in die Zwangslage versetzen, sich ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Geburt zu
schämen.«
»Aber ebendeswegen ist ja die Scheidung notwendig.«
Jedoch Anna hörte nicht auf das, was Dolly sagte. Ihr lag daran, all die Gründe vorzutragen, mit denen sie sich
selbst so oft überzeugt hatte.
»Wozu ist mir denn der Verstand gegeben, wenn ich ihn nicht dazu benutze, die Erzeugung unglücklicher Wesen zu
verhüten?«
Sie blickte Dolly an, fuhr aber, ohne eine Antwort abzuwarten, fort:
»Ich würde mich stets diesen unglücklichen Kindern gegenüber schuldig fühlen«, sagte sie. »Wenn sie nicht da
sind, so sind sie wenigstens nicht un glücklich; wenn sie aber lebten und unglücklich wären, so würde ich allein
daran schuld sein.«
Das waren dieselben Gründe, die Darja Alexandrowna sich selbst vorgeführt hatte; aber jetzt hörte sie sie an,
ohne sie eigentlich zu verstehen. ›Wie kann man sich denn solchen Wesen gegenüber, die noch gar nicht leben, schon
im voraus schuldig fühlen?‹ dachte sie. Und auf einmal kam ihr der Gedanke: Könnte es wohl unter irgendwelchen
Umständen für ihren Liebling Grigori besser sein, wenn er gar nicht geboren wäre? Aber diese Frage erschien ihr so
seltsam und sinnlos, daß sie mit dem Kopf schüttelte, um diesen Wirrwarr umherwirbelnder, toller Gedanken zu
verscheuchen.
»Nein, ich weiß nicht, das ist doch nicht recht gehandelt«, sagte sie nur, mit einem Ausdruck von Widerwillen
auf dem Gesicht.
»Ja, aber vergiß nicht, wer du bist und wer ich bin ... Und außerdem«, fügte Anna hinzu, als ob sie sich trotz
der Menge ihrer Gründe und der Armseligkeit von Dollys Gegengründen dennoch dessen bewußt wäre, daß das nicht recht
gehandelt sei, »vergiß nicht die Hauptsache, nämlich, daß ich mich in ganz anderer Lage befinde als du. Bei dir
handelt es sich darum, ob du einen Grund hast zu wünschen, daß du keine Kinder mehr bekommst; aber bei mir handelt
es sich darum, ob ich einen Grund habe zu wünschen, daß ich noch welche bekomme. Und das ist ein großer
Unterschied. Du verstehst wohl, daß ich das in meiner Lage nicht wünschen kann.«
Darja Alexandrowna erwiderte nichts. Sie wurde sich auf einmal dessen bewußt, daß sie Anna schon so fern stand,
daß sie sich über manche Fragen nie mehr einigen konnten und es das beste war, nicht davon zu reden.
Fußnoten
1 (frz.) Im Grunde ist sie die
verkommenste Frau, die es gibt.
24
»Um so mehr ist es nötig, daß du deine Lage in Ordnung bringst, wenn es möglich ist«, sagte Dolly.
»Ja, wenn es möglich ist«, versetzte Anna auf einmal in ganz anderem, stillem und traurigem Tone.
»Ist denn eine Scheidung nicht möglich? Es ist mir doch gesagt worden, daß dein Mann damit einverstanden
ist.«
»Dolly, ich möchte nicht gern davon reden.«
»Nun, dann wollen wir es lassen«, beeilte sich Darja Alexandrowna zu erwidern, da sie einen schmerzlichen Zug in
Annas Gesicht bemerkte. »Ich finde nur, daß du alles zu trübe ansiehst.«
»Ich? Ganz und gar nicht. Ich bin sehr heiter und zufrieden. Du hast ja gesehen, je fais des passions 1 . Weslowski ...«
»Ja, die Wahrheit zu sagen, Weslowskis Ton hat mir nicht gefallen«, sagte Darja Alexandrowna in dem Wunsch, das
Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen.
»Ach, da ist gar nichts dabei! Das dient nur dazu, Alexei ein wenig zu kitzeln; weiter nichts. Dieser Weslowski
ist ja noch ein Junge, und ich habe ihn ganz in Händen; du verstehst, ich lenke ihn, wie ich will. Es ist gerade,
als wenn ich mit deinem Grigori spiele ... Dolly« (sie ging plötzlich zu etwas anderem über), »du sagst, ich sähe
alles zu trübe an. Aber du kannst das nicht verstehen. Es ist zu entsetzlich. Ich bemühe mich, überhaupt nicht zu
sehen.«
»Aber das ist doch nötig, möchte ich meinen. Du mußt alles tun, was irgend möglich ist.«
»Aber was ist denn möglich? Nichts ist möglich. Du sagst, ich solle Alexei heiraten, und meinst, daß ich das
nicht hinreichend überlege. Ich überlege das nicht hinreichend!« sagte sie bitter, und eine Röte
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