Anna Karenina
allerdings nicht; denn nach meiner Anschauung
liegt darin etwas Gekünsteltes.«
Diese Grausamkeit, mit der er die kleine Welt zerstörte, die sie sich mit solcher Mühe aufgebaut hatte, um ihr
drückendes Leben ertragen zu können, diese Ungerechtigkeit, mit der er sie der Heuchelei und Verstellung
beschuldigte, hatten sie in Entrüstung versetzt.
»Ich bedaure lebhaft, daß Ihnen nur das Rohe und Äußere verständlich ist und natürlich erscheint«, hatte sie
erwidert und dann das Zimmer verlassen.
Als er gestern abend zu ihr gekommen war, hatten sie des vorhergegangenen Streites keine Erwähnung mehr getan,
aber beide gefühlt, daß dieser Streit zwar vorläufig beigelegt, aber nicht völlig erledigt sei.
Heute war er den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, und in dem Bewußtsein, sich mit ihm veruneinigt zu haben,
fühlte sie sich so vereinsamt und bedrückt, daß sie gern alles vergessen und verzeihen und sich mit ihm versöhnen
und sich schuldig bekennen und ihn von aller Schuld freisprechen wollte.
›Ich bin schuld daran‹, sagte sie zu sich. ›Ich bin reizbar, ich bin in sinnloser Weise eifersüchtig. Ich will
mich mit ihm versöhnen, und wir wollen auf das Land fahren; da werde ich ruhiger sein.‹
›Gekünstelt!‹ Sie erinnerte sich auf einmal an den Ausdruck, der ihr bei dem Streit am kränkendsten gewesen war,
und zwar hatte sie sich nicht sosehr durch das Wort verletzt gefühlt wie durch die Absicht, ihr weh zu tun, die sie
darin voraussetzte. ›Ich weiß, was er damit sagen wollte; er wollte sagen: wenn eine Frau, statt ihre eigene
Tochter zu lieben, ein fremdes Kind liebt, so ist das etwas Gekünsteltes. Aber was versteht er denn von der Liebe
einer Mutter zu ihren Kindern, von meiner Liebe zu meinem Sergei, den ich um seinetwillen geopfert habe? Und dann
diese Absicht, mir weh zu tun! Nein, er liebt eine andere; es kann nicht anders sein.‹
Und als sie zu der Erkenntnis kam, daß, während sie doch danach strebte, ruhiger zu werden, sie dennoch wieder
die sooft schon durchlaufene Kreisbahn zurückgelegt hatte und in die frühere gereizte Stimmung wieder hineingeraten
war, da erschrak sie über sich selbst. ›Ist es denn wirklich nicht möglich? Kann ich denn wirklich nicht die Schuld
auf mich nehmen?‹ fragte sie sich selbst und begann wieder von vorn. ›Er ist wahrheitsliebend, er ist ehrenhaft, er
liebt mich. Ich liebe ihn; nächster Tage wird die Scheidung vollzogen werden. Was brauche ich denn noch weiter? Nur
Ruhe brauche ich, und Vertrauen muß ich haben, und ich will die Schuld auf mich nehmen. Ja, jetzt gleich, sobald er
nach Hause kommt, will ich ihm sagen, daß ich daran schuld war, obgleich ich in Wirklichkeit nicht schuld daran
gewesen bin; und dann wollen wir von hier wegfahren.‹
Und um diese Gedanken loszuwerden und nicht wieder in die gereizte Stimmung zu verfallen, klingelte sie und
befahl, die Koffer hereinzubringen, um die Sachen zur Rückkehr auf das Gut einzupacken.
Um zehn Uhr kam Wronski nach Hause.
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»Nun, hast du dich gut unterhalten?« fragte sie; sie war ihm mit einer sanften Miene, in der die Bitte um
Verzeihung lag, ins Vorzimmer entgegengegangen.
»Wie gewöhnlich«, antwortete er und merkte auf den ersten Blick, daß sie sich wieder einmal in guter Stimmung
befand. Er war an solche Übergänge bereits gewöhnt und freute sich heute darüber ganz besonders, weil er selbst
sehr gut gelaunt war.
»Was sehe ich! Das ist recht!« sagte er, indem er auf die Koffer im Vorzimmer zeigte.
»Ja, wir müssen abfahren. Ich bin spazierengefahren, und es war so schön, daß ich eine wahre Sehnsucht nach dem
Leben auf dem Lande bekam. Dich hält doch wohl hier nichts zurück?«
»Es ist mein sehnlichster Wunsch. Ich komme gleich; dann wollen wir näher darüber sprechen; ich will mich nur
erst umkleiden. Laß nur immer den Tee bringen.«
Damit ging er nach seinem Zimmer.
Sie hatte sich durch seine Worte: »Das ist recht!« verletzt gefühlt: so rede man zu einem Kinde, wenn es
aufgehört habe, eigensinnig zu sein. Und als eine noch größere Kränkung hatte sie den Gegensatz zwischen ihrem
demütigen und seinem selbstbewußten Tone empfunden. So hatte sie denn einen Augenblick die Lust zu einem neuen
Kampfe in ihrer Seele aufsteigen gefühlt. Aber sie hatte sich Gewalt angetan, dieses Verlangen unterdrückt und ihr
freundliches, heiteres Benehmen gegen Wronski unverändert beibehalten.
Als er zu ihr ins Eßzimmer gekommen war,
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