Anna Karenina
erzählte sie ihm teilweise mit den Worten, die sie sich vorher
zurechtgelegt, wie sie den Tag verlebt hatte und von ihren Plänen über die Abreise.
»Weißt du, es kam ordentlich wie eine Eingebung über mich«, sagte sie. »Wozu soll ich hier auf die Scheidung
warten? Ob wir hier oder auf dem Lande sind, das macht ja dabei gar keinen Unterschied. Aber dieser Zustand des
Wartens ist mir überhaupt unerträglich; ich will auf nichts mehr hoffen, will von der Scheidung gar nichts mehr
hören. Ich habe mir gesagt, daß dies auf mein weiteres Leben keinen Einfluß haben darf. Bist du nicht auch der
Meinung?«
»O gewiß«, antwortete er und blickte beunruhigt in ihr aufgeregtes Gesicht.
»Was habt ihr denn da gemacht? Wer war denn da?« fragte sie nach einer kleinen Pause.
Wronski nannte die Teilnehmer an dem Diner. »Es war ausgezeichnet, auch die Ruderregatta und alles übrige war
ganz nett; aber in Moskau geht es nun einmal ohne etwas Lächerliches nicht ab. Es trat da so eine Dame auf, die
Schwimmlehrerin der Königin von Schweden, und zeigte ihre Künste.«
»Wie? Ist sie geschwommen?« fragte Anna mit finsterer Miene.
»Ja, in einem eigenartigen Badeanzug; es ist ein altes, häßliches Frauenzimmer. Also wann wollen wir denn nun
abfahren?«
»Welch alberner Einfall von dieser Person! Ist denn an ihrem Schwimmen et was Besonderes?« fragte Anna, ohne auf
Wronskis Frage zu antworten.
»Durchaus nichts Besonderes. Ich sage ja auch, die Sache war furchtbar albern. Also wann beabsichtigst du denn
zu reisen?«
Anna schüttelte mit dem Kopfe, wie wenn sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen wollte.
»Wann wir reisen wollen? Je früher, desto besser. Zu morgen werden wir nicht fertig. Also übermorgen.«
»Schön ... aber nein, warte einmal. Übermorgen ist Sonntag; da muß ich bei maman sein«, erwiderte Wronski; aber
hier wurde er verlegen, denn sobald er seine Mutter erwähnt hatte, merkte er, daß Anna ihn mit argwöhnischem Blick
unverwandt ansah. In seiner Verlegenheit fand sie eine Bestätigung ihres Verdachtes. Sie wurde dunkelrot und rückte
von ihm ab. Jetzt stand ihr nicht mehr die Schwimmlehrerin der Königin von Schweden vor Augen, sondern die
Prinzessin Sorokina, die mit der Gräfin Wronskaja zusammen nicht weit von Moskau auf deren Landgut wohnte.
»Du kannst ja morgen hinfahren!« sagte sie.
»Nein, doch nicht. In der Angelegenheit, in der ich hinfahren muß, werden die Kreditbriefe und das Geld morgen
noch nicht zu bekommen sein«, versetzte er.
»Dann wollen wir lieber gar nicht reisen.«
»Aber warum denn nicht?«
»Später reise ich nicht. Entweder Sonntag oder nie.«
»Aber warum denn das?« fragte Wronski erstaunt. »Das hat ja doch keinen Sinn!«
»Für dich hat das keinen Sinn, weil ich dir ganz gleichgültig bin. Du willst mein Leben nicht verstehen. Das
einzige, was mich hier beschäftigt, ist Hanna. Du sagst, das ist Heuchelei. Du hast mir ja gestern gesagt, ich
liebte meine Tochter nicht und stellte mich, als liebte ich diese Engländerin, und das sei etwas Gekünsteltes. Ich
möchte wohl wissen, wie ich es anfangen soll, hier ein unbefangenes, natürliches Leben zu führen.«
Einen Augenblick kam sie zur Besinnung und erschrak darüber, daß sie ihrem Vorsatz untreu geworden war. Aber
obgleich sie wußte, daß sie sich dadurch selbst zugrunde richtete, war sie nicht imstande, sich zu beherrschen; sie
mußte ihm zeigen, wie sehr er im Unrecht war; sie konnte sich ihm nicht unterordnen.
»Das habe ich nie gesagt; ich habe gesagt, daß diese plötzliche Liebe nicht nach meinem Geschmack ist.«
»Warum sagst du nicht die Wahrheit? Du rühmst dich ja doch immer deiner Aufrichtigkeit.«
»Ich rühme mich niemals und rede niemals die Unwahrheit«, erwiderte er leise, bemüht, den in ihm aufsteigenden
Zorn zurückzuhalten. »Es tut mir sehr leid, wenn ich deine Achtung ...«
»Die Achtung hat man nur erfunden, um die leere Stelle zu verbergen, wo die Liebe sein sollte ... Aber wenn du
mich nicht mehr liebst, so wäre es besser und ehrlicher, es geradeheraus zu sagen.«
»Nein, das ist nicht mehr auszuhalten!« rief Wronski und stand vom Stuhle auf. Und vor sie hintretend, sagte er
langsam: »Warum stellst du meine Geduld so auf die Probe?« Seine Miene ließ erkennen, daß ihm noch manches auf der
Zunge lag; aber er beherrschte sich. »Auch meine Geduld hat ihre Grenzen.«
»Was wollen Sie damit sagen?« rief Anna; mit Entsetzen erkannte sie auf
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