Anna Karenina
seinem ganzen Gesicht und namentlich in
den hart und drohend blickenden Augen den unverhohlenen Ausdruck des Hasses.
»Ich will damit sagen ...«, begann er; aber er hielt inne. »Ich möchte nur fragen: was, wollen Sie, soll ich
tun?«
»Was kann ich wollen? Ich kann nur wollen, daß Sie mich nicht verlassen, wie Sie es beabsichtigen«, erwiderte
sie, da sie alles erriet, was er unausgesprochen gelassen hatte. »Und doch ist dies nicht eigentlich das, was ich
will; das steht erst in zweiter Linie. Ich will Liebe, und die ist nicht da. Folglich ist alles zu Ende.«
Sie schritt zur Tür.
»Warte, warte!« rief Wronski; die finstere Falte zwischen seinen Brauen war nicht verschwunden; aber er ergriff
Anna bei der Hand und hielt sie zurück. »Was liegt denn eigentlich vor? Ich habe gesagt, die Abreise müsse einen
Tag weiter hinausgeschoben werden, als du es in Aussicht genommen hattest, und darauf hast du mir entgegnet, ich
löge, ich sei ein unehrenhafter Mensch.«
»Ja, und ich wiederhole es«, erwiderte sie in Erinnerung an die bei dem früheren Streit vorgekommenen Ausdrücke,
»wer mir vorhält, daß er mir alles zum Opfer gebracht hat, ist ein herzloser Mensch.«
»Nein, auch die Geduld hat ihre Grenzen!« rief er und ließ rasch ihre Hand los.
›Er haßt mich, das ist klar‹, dachte sie und ging schweigend, ohne sich umzusehen, unsicheren Schrittes aus dem
Zimmer. ›Er liebt eine andere; das ist noch klarer‹, sagte sie zu sich selbst, als sie in ihr Zimmer trat. ›Ich
will Liebe, und die ist nicht da. Folglich ist alles zu Ende‹, sagte sie noch einmal mit denselben Worten wie
vorher, ›und es muß ein Ende gemacht werden.‹
›Aber wie?‹ fragte sie sich und setzte sich in einen Lehnsessel vor dem Spiegel.
Gedanken darüber, wohin sie jetzt gehen solle, ob zu der Tante, bei der sie erzogen worden war, oder zu Dolly,
oder ob sie allein ins Ausland reisen solle, und was er wohl in diesem Augenblick allein in seinem Arbeitszimmer
tue, und ob dieser Streit den Abschluß gebracht habe oder noch eine Versöhnung möglich sei, und was jetzt wohl alle
ihre früheren Petersburger Bekannten von ihr sagen würden, und wie Alexei Alexandrowitsch die Sache ansehen werde,
diese und viele andere Gedanken über das, was nun nach dem Bruche geschehen werde, gingen ihr durch den Kopf; aber
sie überließ sich diesen Gedanken nicht mit ganzer Seele. In ihrer Seele war noch ein anderer, unklarer Gedanke
vorhanden, der einzige, der sie wirklich anzog; aber sie vermochte zunächst nicht recht, ihn sich zum Bewußtsein zu
bringen. Als jedoch ihre umherschweifenden Vorstellungen noch einmal zu Alexei Alexandrowitsch zurückkehrten,
erinnerte sie sich auch an die Zeit ihrer Krankheit nach der Entbindung und daran, daß ein bestimmtes Gefühl sie
damals fortwährend erfüllt hatte. Und nun kamen ihr auch ihre damaligen Worte und ihr damaliges Gefühl ins
Gedächtnis zurück: ›Warum bin ich nicht gestorben?‹ Und plötzlich verstand sie den Gedanken, der in ihrer Seele
vorhanden war. Ja, das war der Gedanke, der allein die Lösung des Knotens brachte. ›Ja, sterben! ...‹
›Alexei Alexandrowitschs und Sergeis Schmach und Schande und meine eigene entsetzliche Schande, alles wird durch
den Tod wiedergutgemacht werden. Wenn ich gestorben bin, dann wird er auch Reue empfinden, er wird mich
bemitleiden, mich lieben, sich um mich grämen.‹ Ein regungslos verharrendes Lächeln des Mitleids mit sich selbst
lag auf ihrem Gesichte, während sie so auf dem Lehnsessel saß und die Ringe von ihrer linken Hand abstreifte und
wieder ansteckte und sich Wronskis verschiedenartige Empfindungen nach ihrem Tode lebhaft vorstellte.
Schritte, die sich näherten, seine Schritte, ließen sie ihren Gedankengang unterbrechen. Wie wenn das Ordnen der
Ringe ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nähme, wandte sie sich nicht einmal nach ihm um.
Er trat zu ihr heran, faßte sie bei der Hand und sagte leise:
»Anna, wir wollen übermorgen reisen, wenn du es so wünschst. Ich bin mit allem einverstanden.«
Sie schwieg.
»Ist es dir recht?« fragte er.
»Du weißt es ja alles selbst«, antwortete sie, und in demselben Augenblicke brach sie, unfähig länger an sich zu
halten, in Schluchzen aus:
»Sage dich von mir los! Verlaß mich!« brachte sie unter Tränen hervor. »Ich will morgen von dir weg ... Ich will
noch mehr tun. Was bin ich? Ein sittenloses Weib. Ein Stein an deinem Halse. Ich will dich nicht
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