Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Erfahrungen des Lebens erwachsen, das er in seiner ländlichen Einsamkeit verbracht und nach allen Richtungen durchdacht hatte.
»Sehen Sie«, sagte er, sichtlich bestrebt, zu zeigen, daß er eine gute Bildung besitze, »die Sache ist die, daß jeder Fortschritt nur von der autoritativen Macht bewerkstelligt wird. Nehmen Sie die Reformen Peters, Katharinas, Alexanders! Nehmen Sie die Geschichte Europas! Und ganz besonders gilt das für die Fortschritte auf dem Gebiete der Landwirtschaft. Zum Beispiel die Kartoffeln – auch die sind bei uns nur mit Gewalt eingeführt worden. Auch mit dem Hakenpflug hat man ja nicht immer gepflügt; auch der ist erst eingeführt worden, vielleicht zur Zeit der Teilfürsten, aber sicherlich nur mit Gewalt. Jetzt zu unserer Zeit haben wir Gutsbesitzer, als noch die Leibeigenschaft bestand, unsere Wirtschaft mit den modernen Vervollkommnungen geführt; die Trockenböden und die Worfelmaschinen und das Düngerfahren und alle landwirtschaftlichen Geräte, alles haben wir kraft unserer höheren Stellung eingeführt, und die Bauern haben sich anfangs widersetzt, nachher aber es uns nachgemacht. Jetzt nun ist uns bei der Aufhebung der Leibeigenschaft diese Macht genommen worden, und so muß nun auch unser Wirtschaftsbetrieb überall, wo er eine hohe Stufe erreicht hatte, wieder zu dem ursprünglichen Zustande schlimmster Unkultur hinabsinken. So fasse ich das auf.«
»Aber weshalb denn nur?« entgegnete Swijaschski. »Wenn Ihr Wirtschaftsbetrieb rationell ist, so können Sie ihn auch unter Anwendung des Mietsystems durchführen.«
»Dazu fehlt mir die Macht. Gestatten Sie die Frage: Mit was für Leuten soll ich meine Wirtschaft führen?«
›Da haben wir's!‹ dachte Ljewin. ›Die Arbeitskraft, das ist der Angelpunkt der Landwirtschaft‹.
»Mit Arbeitern.«
»Die Arbeiter wollen nicht gut arbeiten und nicht mit guten Geräten. Unsere Arbeiter verstehen nur eins: sich viehisch zu betrinken und alles, was man ihnen in die Hände gibt, zugrunde zu richten. Die Pferde richten sie zugrunde, indem sie sie in erhitztem Zustande tränken; das gute Pferdegeschirr zerreißen sie; die frisch beschienten Räder vertauschen sie gegen andere und vertrinken den Ertrag; in die Dreschmaschine lassen sie einen Deichselnagel hineinfallen, um sie entzweizumachen. Alles, was nicht nach ihrem Geschmacke ist, ist ihnen ein Greuel. Infolgedessen ist die ganze Landwirtschaft gesunken. Weite Felder liegen unbebaut und überziehen sich mit Wermut; oder sie sind an die Bauern verpachtet, und wo früher eine Million Tschetwert erzeugt wurde, erzeugen diese jetzt nur einige Hunderttausend. Der allgemeine Wohlstand ist gesunken. Ja, wenn man dasselbe getan hätte, aber mit mehr Überlegung ...«
Und er begann seinen eigenen Plan einer Bauernbefreiung zu entwickeln, bei dessen Befolgung nach seiner Ansicht diese Übelstände vermieden worden wären.
Das interessierte Ljewin nicht; aber als der Redende mit seinen Auseinandersetzungen fertig war, kehrte Ljewin zu der ersten Behauptung zurück, die jener aufgestellt hatte. Um Swijaschski dazu zu veranlassen, seine wirkliche Meinung auszusprechen, wandte sich Ljewin an diesen und sagte:
»Daß die Bedeutung der Landwirtschaft sinkt und daß es bei unserem Verhältnisse zu den Arbeitern unmöglich ist, mit Vorteil eine rationelle Wirtschaft zu führen, das ist vollkommen richtig.«
»Das kann ich nicht finden«, versetzte Swijaschski, und zwar jetzt ganz ernsthaft. »Ich sehe nur, daß wir nicht verstehen, Landwirtschaft zu treiben, und bin im Gegensatze zu dem, was vorhin behauptet wurde, der Ansicht, daß der Wirtschaftsbetrieb, wie er zur Zeit der Leibeigenschaft üblich war, nicht etwa auf einer sehr hohen, sondern auf einer sehr niedrigen Stufe stand. Wir haben keine Maschinen und keine ordentlichen Arbeitstiere und keine richtige Verwaltung, und wir verstehen auch nicht zu rechnen. Wenn sie einen Landwirt fragen, so weiß er nicht, was für ihn vorteilhaft und was unvorteilhaft ist.«
»Wir könnten ja die italienische Buchführung lernen«, sagte der Gutsbesitzer ironisch. »Aber man mag da rechnen, soviel man will, wenn die Leute einem alles verderben, kommt doch kein Gewinn heraus.«
»Warum sollten sie denn alles verderben? Ein elendes Ding von Dreschmaschine oder eine russische Stampfe, die machen sie entzwei; aber meine Dampfdreschmaschine, die werden sie nicht entzweimachen. So eine jämmerliche Mähre
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