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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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Gräfin Lydia Iwanowna und anderen Leuten, die diese Anschauungen teilten, fehlte es vollständig an Tiefe der Einbildungskraft, an jener geistigen Fähigkeit, die durch die Einbildungskraft hervorgerufenen Vorstellungen in dem Maße wirklich werden zu lassen, daß sie mit anderen Vorstellungen und mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung gebracht zu werden verlangen. Er sah nichts Unmögliches und Widerspruchsvolles in der Vorstellung, daß der für die Ungläubigen bestehende Tod für ihn selbst nicht da sei und daß, da er nach seinem eigenen richterlichen Ermessen den vollsten Glauben besitze, auch keine Sünde mehr in seiner Seele vorhanden sei und er schon hier auf Erden der völligen Erlösung teilhaftig werde.
     
    Allerdings hatte auch Alexei Alexandrowitsch selbst ein dunkles Gefühl von der Leichtfertigkeit und Fehlerhaftigkeit dieser Vorstellung über seinen Glauben und wußte, daß er damals, wo er noch gar nicht daran gedacht hatte, sein Verzeihen als die Wirkung einer höheren Macht aufzufassen, sondern sich einfach diesem unmittelbaren Gefühle überlassen hatte, daß er damals ein größeres Glück empfunden hatte als jetzt, wo er sich jeden Augenblick sagte, daß Christus in seiner Seele lebe und daß er, wenn er Papiere unterschrieb, lediglich seinen Willen zur Ausführung bringe. Aber es war ihm ein Bedürfnis geworden, so zu denken; es war ihm in dem Maße Bedürfnis geworden, in seiner Erniedrigung auf dieser wenn auch nur eingebildeten Höhe zu stehen, von der aus er, von allen verachtet, die anderen verachten konnte, daß er sich, wie an einen Rettungsanker, an seine vermeintliche Erlösung anklammerte.
     
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    1 (frz.) Ich bin gewaltsam eingedrungen.
     

23
     
    D ie Gräfin Lydia Iwanowna war als sehr junges, schwärmerisches Mädchen an einen reichen, vornehmen, gutmütigen, liederlichen Lebemann verheiratet worden. Schon im zweiten Monat der Ehe vernachlässigte er sie und beantwortete ihre begeisterten Liebesbeteuerungen nur mit Spott und sogar mit einer Feindseligkeit, die die Leute, die einerseits das gute Herz des Grafen kannten und anderseits an der schwärmerischen Lydia keine Mängel sahen, sich schlechterdings nicht erklären konnten. Seitdem lebten sie, wenn sie sich auch nicht hatten scheiden lassen, doch getrennt voneinander, und wenn der Mann mit seiner Frau zusammentraf, so behandelte er sie stets und unveränderlich mit jenem giftigen Spott, dessen Ursache allen unverständlich war.
     
    Die Gräfin Lydia Iwanowna war in ihren Mann schon längst nicht mehr verliebt; aber es hatte seit jener Zeit keinen Augenblick gegeben, wo sie nicht in irgend jemand verliebt gewesen wäre. Manchmal war sie in mehrere Menschen zugleich verliebt, sowohl in Männer wie in Frauen; sie verliebte sich fast in alle Menschen, die sich durch irgend etwas auszeichneten. Sie verliebte sich in alle neuen Prinzen und Prinzessinnen, die mit der kaiserlichen Familie durch Heirat in Verwandtschaft traten; sie verliebte sich in einen Metropoliten, in einen Vikar und in einen Pfarrer; sie verliebte sich in einen Journalisten, in drei Panslawisten, in Komisarow; in einen Minister, in einen Arzt, in einen englischen Missionar und in Karenin. Alle diese zärtlichen Gefühle, die bald schwächer, bald stärker auftraten, hinderten sie nicht, die ausgedehntesten und verwickeltsten Beziehungen mit dem Hofe und der vornehmen Gesellschaft zu unterhalten. Aber seit sie nach dem Unglück, von dem Karenin betroffen worden war, diesen unter ihren ganz besonderen Schutz genommen hatte, sich in Karenins Haushalt abarbeitete und für sein persönliches Wohlbefinden sorgte, seitdem fühlte sie, daß alle ihre früheren Liebesgefühle nicht wahr und echt gewesen seien, daß sie aber jetzt in Karenin allein wirklich verliebt sei. Das Gefühl, das sie jetzt für ihn empfand, erschien ihr stärker als alle früheren. Wenn sie dieses Gefühl prüfte und mit ihren früheren verglich, so erkannte sie deutlich, daß sie sich in Komisarow nicht verliebt hätte, wenn er nicht dem Kaiser das Leben gerettet, sich nicht in Ristitsch-Kudschizki verliebt hätte, wenn er nicht so eifrig für den Panslawismus gewirkt hätte, daß sie aber Karenin um seiner selbst willen liebte, wegen seiner hohen, unverstandenen Seele, und wegen des ihr so angenehmen hohen Klanges seiner Stimme mit ihrem langgezogenen Tonfall, und wegen seines müden Blickes, und wegen seines Charakters und seiner weichen, weißen Hände mit den hervortretenden Adern.

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