Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Rechnung über einen Hut und Bänder konnte er nicht denken, ohne sich selbst auf das tiefste zu bemitleiden.
»Ich verstehe Sie, mein Freund!« erwiderte die Gräfin Lydia Iwanowna. »Ich verstehe alles. Die wahre Hilfe und den wahren Trost werden Sie allerdings bei mir nicht finden; aber doch bin ich nur zu dem Zwecke gekommen, Ihnen zu helfen, wenn ich es vermag. Wenn ich Ihnen doch all diese kleinlichen, erniedrigenden Sorgen abnehmen könnte ... Es ist mir klar, daß hier eine Frau schalten und walten muß. Wollen Sie mich damit beauftragen?«
Alexei Alexandrowitsch drückte ihr schweigend und dankbar die Hand.
»Wir wollen beide gemeinsam für Ihren kleinen Sergei sorgen. Ich habe zwar in praktischen Dingen nicht viel Erfahrung; aber ich werde es übernehmen, ich werde Ihre Haushälterin sein. Danken Sie mir nicht; ich tue das nicht selbst ...«
»Ich muß Ihnen von ganzem Herzen danken.«
»Aber, mein Freund, überlassen Sie sich nicht jenem Gefühl, von dem Sie sprachen: sich dessen zu schämen, was doch die höchste Vollendung des Christen darstellt; denn ›wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden‹. Und danken dürfen Sie mir nicht. Ihm müssen Sie danken und Ihn um Hilfe anflehen. In Ihm allein finden wir Ruhe und Trost und Rettung und Liebe«, sagte sie und begann, die Augen zum Himmel richtend, zu beten, wie Alexei Alexandrowitsch aus ihrem Schweigen schloß.
Alexei Alexandrowitsch hatte ihr zugehört, und die Ausdrücke, die ihm früher wenn auch nicht gerade widerwärtig gewesen, so doch überschwenglich vorgekommen waren, erschienen ihm jetzt so natürlich und tröstlich. Er war kein Freund dieses neumodischen, schwärmerischen Wesens. Er war ein gläubiger Christ, der sich zur Religion vorwiegend vom politischen Standpunkte aus hielt, und die moderne Richtung, die sich mehrere neue Auslegungen gestattete, war ihm namentlich deshalb grundsätzlich zuwider, weil sie dem Streit der Meinungen und einer zersetzenden Kritik Tür und Tor öffnete. Er hatte früher dieser neuen Richtung kühl, ja feindselig gegenübergestanden, sich indessen mit der Gräfin Lydia Iwanowna, die dafür begeistert war, niemals in einen Streit darüber eingelassen, sondern ihre herausfordernden Bemerkungen immer absichtlich mit Stillschweigen übergangen. Jetzt aber hatte er ihre Redewendungen zum erstenmal mit Vergnügen angehört und innerlich ihnen nicht widersprochen.
»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar für das, was Sie mir Gutes tun und sagen«, äußerte er, nachdem sie aufgehört hatte zu beten.
Die Gräfin Lydia Iwanowna drückte ihrem Freunde noch einmal beide Hände.
»Jetzt will ich mich ans Werk machen«, sagte sie nach einer kurzen Pause des Schweigens lächelnd und wischte sich die Tränenspuren vom Gesicht. »Ich gehe zu Sergei. Nur im äußersten Notfall werde ich mich an Sie wenden.« Sie stand auf und ging hinaus.
Die Gräfin Lydia Iwanowna ging in Sergeis Zimmer und sagte dem Knaben, indem sie die Wangen des Erschrockenen mit ihren Tränen benetzte, sein Vater sei ein Heiliger und seine Mutter sei gestorben.
Die Gräfin Lydia Iwanowna erfüllte ihr Versprechen. Sie nahm wirklich alle Sorgen für die Neuordnung und Leitung von Alexei Alexandrowitschs Haushalt auf sich. Aber sie hatte nicht übertrieben, als sie sagte, sie habe in praktischen Dingen nicht viel Erfahrung. Alle ihre Anordnungen mußten abgeändert werden, da sie einfach unausführbar waren, und zwar wurden sie abgeändert von Alexei Alexandrowitschs Kammerdiener Kornei, der, ohne daß sich jemand dessen recht bewußt geworden wäre, jetzt Karenins ganzen Haushalt leitete und ruhig und vorsichtig seinem Herrn während des Ankleidens alles Erforderliche meldete. Aber dennoch war auch Lydia Iwanownas Hilfe im höchsten Grade wirksam: sie hatte dem Traurigen eine Art von seelischer Stütze verliehen, sowohl dadurch, daß sie ihn hatte erkennen lassen, wie sehr er von ihr geliebt und geschätzt wurde, wie auch namentlich insofern, als sie (und es war ihr ein besonderer Trost, dies zu glauben) ihn schon beinah ganz zum Christentum bekehrt hatte, das heißt ihn aus einem nur lässigen, lauen Gläubigen in einen warmen, eifrigen Anhänger jener neuen Auffassung des Christentums verwandelt hatte, die in letzter Zeit in Petersburg soviel Verbreitung gefunden hatte. Alexei Alexandrowitsch fand keine große Mühe dabei, sich von der Richtigkeit dieser Auffassung zu überzeugen. Ihm sowie der
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