Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Verzweiflung besuchte sie ihn und trat unangemeldet in sein Arbeitszimmer. Sie traf ihn am Tische sitzend, den Kopf auf beide Hände gestützt.
»J'ai forcé la consigne« 1 , sagte sie, indem sie schnellen Schrittes auf ihn zutrat; die Erregung und die rasche Bewegung benahmen ihr beinahe den Atem. »Ich habe alles gehört, Alexei Alexandrowitsch, mein Freund«, fuhr sie fort, drückte ihm mit ihren beiden Händen die Hand und blickte ihm mit ihren schönen, schwärmerischen Augen ins Gesicht.
Alexei Alexandrowitsch stand mit finsterer Miene auf und rückte ihr, nachdem er seine Hand frei gemacht hatte, einen Stuhl heran.
»Ist es Ihnen nicht gefällig, Gräfin? Ich empfange nicht, weil ich krank bin«, sagte er; seine Lippen bebten.
»Mein Freund«, sagte die Gräfin Iwanowna noch einmal, ohne die Augen von ihm wegzuwenden, und plötzlich zogen sich ihre Brauen auf den inneren Seiten in die Höhe, so daß sie auf der Stirn ein Dreieck bildeten, wodurch ihr unschönes gelbes Gesicht noch häßlicher wurde. Aber Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß sie mit ihm Mitleid habe und nahe daran sei, zu weinen. Und da überkam ihn die Rührung; er ergriff ihre weiche Hand und küßte sie wiederholt.
»Mein Freund«, sagte sie; aber die Stimme wollte ihr vor Erregung nicht gehorchen. »Sie dürfen sich nicht Ihrem Kummer so ganz überlassen. Ihr Leid ist groß; aber Sie müssen Trost finden.«
»Ich fühle mich wie niedergeschmettert, wie zermalmt; ich bin gar kein Mensch mehr«, sagte Alexei Alexandrowitsch; er ließ ihre Hand los, sah ihr aber weiter in die tränenerfüllten Augen. »Meine Lage ist deshalb so furchtbar, weil ich nirgends, auch in mir selbst nicht, einen Stützpunkt finde.«
»Sie werden eine Stütze finden; aber suchen Sie sie nicht in mir, wiewohl ich Sie bitte, an meine Freundschaft zu glauben«, erwiderte sie mit einem Seufzer. »Unsere Stütze ist die Liebe, jene Liebe, die Er uns hinterlassen hat. Seine Last ist leicht«, sagte sie mit jenem verzückten Blick, den Alexei Alexandrowitsch an ihr so gut kannte. »Er wird Ihr Halt und Ihre Hilfe sein.«
Es klang aus diesen Worten die Rührung über die eigenen erhabenen Gefühle heraus; auch spürte man darin die neue, verzückte, erst unlängst in Petersburg Mode gewordene mystische Richtung. Aber obwohl Alexei Alexandrowitsch dergleichen sonst als Überschwenglichkeit verwarf, so hörte er diese Worte jetzt doch nicht ungern.
»Ich bin ganz schwach. Ich bin wie vernichtet. Ich hatte nichts Derartiges vorausgesehen und begreife auch jetzt nichts davon.«
»Mein Freund!« wiederholte Lydia Iwanowna.
»Es handelt sich nicht um den Verlust dessen, was dahin ist; nein, darum handelt es sich nicht!« fuhr Alexei Alexandrowitsch fort. »Darüber klage ich nicht. Aber ich kann mir nicht helfen: ich schäme mich vor den Menschen wegen der Lage, in der ich mich befinde. Das ist schlecht von mir; aber ich kann nicht anders, kann nicht anders.«
»Nicht Sie haben jene erhabene Tat der Vergebung vollbracht, die mich und alle entzückt, sondern Er, der in Ihrem Herzen wohnt«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna und richtete schwärmerisch die Augen empor, »und darum dürfen Sie sich Ihrer Tat nicht schämen.«
Alexei Alexandrowitsch machte ein finsteres Gesicht, legte die Hände zusammen und knackte mit den Fingern.
»Man muß alle Einzelheiten kennen, um ein Urteil über meinen Zustand zu haben«, sagte er mit seiner hohen Stimme. »Die Kräfte des Menschen haben ihre Grenzen, Gräfin, und ich bin an der Grenze der meinigen angelangt. Den ganzen Tag über habe ich heute Anordnungen treffen müssen, häusliche Anordnungen, die durch meine neue einsame Situation veranlaßt waren« (er legte einen besonderen Ton auf das Wort »veranlaßt«). »Die Dienerschaft, die Erzieherin, Rechnungen ... Ich wurde sozusagen auf gelinder Glut geröstet und war nicht imstande, es länger zu ertragen. Beim Mittagessen ... ich wäre gestern beinahe während der Mahlzeit vom Tisch weggegangen. Ich konnte es nicht ertragen, wie mein Sohn mich ansah. Er fragte mich nicht, was das alles zu bedeuten habe; aber er wollte fragen, und ich konnte seinen Blick nicht aushalten. Er fürchtete sich, mich anzusehen. Und damit noch nicht genug ...« Alexei Alexandrowitsch wollte von der Rechnung reden, die ihm zugestellt war; aber die Stimme begann ihm zu zittern, und er hielt inne. An diese auf bläuliches Papier geschriebene
Weitere Kostenlose Bücher