Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
unversöhnlichen Haß aus. Ljewin begriff gar nicht, worum es sich handelte, und war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit der die Frage, ob über Flerows Zulassung abgestimmt werden sollte oder nicht, behandelt wurde. Er hatte, wie ihm nachher Sergei Iwanowitsch auseinandersetzte, sich folgenden Gedanken nicht klargemacht: für das Gemeinwohl war es erforderlich, den Gouvernements-Adelsmarschall zu beseitigen; zur Beseitigung des Adelsmarschalls war Stimmenmehrheit erforderlich; um aber die Stimmenmehrheit zu haben, war es erforderlich, daß jenem Flerow das Stimmrecht zuerkannt wurde; und um Flerow für stimmfähig erklären zu können, war es erforderlich, den Gesetzesparagraphen in entsprechender Weise auszulegen.
»Eine einzige Stimme kann die ganze Sache entscheiden, und wenn man dem Wohle der Gesamtheit dienen will, muß man entschlossen und folgerichtig sein«, schloß Sergei Iwanowitsch. Ljewin aber hatte sich das zu der Zeit, als sich der Vorgang abspielte, noch nicht klargemacht, und es war ihm peinlich, diese braven Männer, die er hochachtete, in so häßlicher, grimmiger Aufregung zu sehen. Um dieses peinliche Gefühl loszuwerden, ging er, ohne das Ende der Verhandlungen abzuwarten, hinaus in den kleinen Saal, wo sich niemand befand außer den Kellnern am Schanktisch. Beim Anblick der Kellner, die eifrig damit beschäftigt waren, das Geschirr abzuwaschen und abzutrocknen und Teller und Gläser aufzustellen, und beim Anblick ihrer ruhigen, frischen Gesichter empfand Ljewin ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als wenn er aus einem übelriechenden Zimmer in die reine Luft hinausgetreten wäre. Er fing an, auf und ab zu gehen und sah mit Vergnügen den Kellnern zu. Namentlich gefiel ihm einer mit schon ergrautem Backenbart; er unterwies seine jüngeren Kollegen in der Kunst, Mundtücher zu falten, und hatte für die törichten Späße, die sie über ihn machten, nur den Ausdruck stillschweigender Geringschätzung. Ljewin hatte eben vor, mit dem alten Kellner ein Gespräch anzuknüpfen, als der Sekretär des adligen Vormundschaftsamtes, ein altes Männchen, dessen Besonderheit es war, sämtliche Edelleute des Gouvernements bei ihren Vornamen und Vatersnamen zu kennen, ihm dazwischenkam.
»Wollen Sie die Güte haben zu kommen, Konstantin Dmitrijewitsch?« sagte er zu ihm. »Ihr Herr Bruder sucht Sie. Es wird abgestimmt.«
Ljewin begab sich wieder in den großen Saal, nahm ein weißes Kügelchen in Empfang und ging unmittelbar hinter seinem Bruder Sergei Iwanowitsch zu dem Tische hin, neben dem mit bedeutsamer, spöttischer Miene Swijaschski stand, seinen Bart in der Faust zusammenfaßte und daran roch. Sergei Iwanowitsch steckte seine Hand in einen Kasten und legte seine Kugel irgendwohin; dann machte er Ljewin Platz, blieb aber neben ihm stehen. Ljewin trat heran; aber da er vollständig vergessen hatte, worum es sich handelte, so wandte er sich in seiner Verlegenheit an Sergei Iwanowitsch mit der Frage: »Wohin soll ich sie legen?« Er hatte leise gefragt, während in der Nähe gesprochen wurde, so daß er hatte hoffen können, seine Frage würde nicht gehört werden. Aber die Redenden verstummten gerade in dem Augenblicke, und die unpassende Frage wurde gehört. Sergei Iwanowitsch zog ein finsteres Gesicht.
»Das hängt von der Überzeugung eines jeden ab«, antwortete er in strengem Ton.
Einige lächelten. Ljewin wurde rot, steckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel, da er sie in der rechten Hand hatte, nach rechts. Nachdem er das getan hatte, fiel ihm ein, daß er auch die linke Hand hätte unter das Tuch stecken müssen, und so tat er dies denn noch nachträglich, allerdings zu spät; er wurde noch verlegener und ging möglichst schnell in die hintersten Reihen zurück.
»Einhundertsechsundzwanzig Stimmen für die Berechtigung! Achtundneunzig Stimmen dagegen!« rief der Sekretär, der das R nicht aussprechen konnte. Dann hörte man Gelächter: es hatten sich in dem Kasten noch ein Knopf und zwei Nüsse gefunden. Der Edelmann war zugelassen worden; die neue Partei hatte gesiegt.
Aber die alte Partei erachtete sich nicht für besiegt. Ljewin hörte, daß Snetkow gebeten wurde zu kandidieren, und sah, daß ein Schwarm von Edelleuten den Gouvernements-Adelsmarschall umringte, der etwas sagte. Ljewin trat näher heran. Auf die Aufforderung der Edelleute antwortend, sprach Snetkow von dem Vertrauen des Adels, von der Liebe, die man ihm
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