Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ihm unter keinen Umständen etwas zu geben.«
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D er schmale Saal, in dem geraucht und gegessen wurde, war voll von Edelleuten. Die Aufregung steigerte sich immer mehr, und auf allen Gesichtern machte sich die Unruhe bemerkbar. Besonders aufgeregt waren die Wortführer, die mit allen Einzelheiten und mit der Berechnung aller Stimmen Bescheid wußten. Dies waren die Befehlshaber der bevorstehenden Schlacht. Die übrigen, ähnlich den gemeinen Soldaten vor der Schlacht, machten sich zwar auch zum Kampfe fertig, suchten sich aber in der Zwischenzeit noch zu vergnügen. Die einen aßen stehend oder an Tischen sitzend; die andern gingen, Zigaretten rauchend, in dem langen Saale auf und ab und unterhielten sich mit Freunden, die sie lange nicht gesehen hatten.
Ljewin hatte keine Lust zu essen, auch rauchte er überhaupt nicht; zu einer Gruppe seiner Bekannten, das heißt zu Sergei Iwanowitsch, Stepan Arkadjewitsch, Swijaschski und einigen anderen, mochte er nicht herantreten, weil Wronski in seiner Hofstallmeister-Uniform bei ihnen stand und in lebhaftem Gespräche mit ihnen begriffen war. Schon tags zuvor hatte Ljewin ihn bei den Wahlen gesehen und war ihm absichtlich aus dem Wege gegangen, da er nicht mit ihm zusammenzutreffen wünschte. Er ging an ein Fenster, setzte sich dort auf einen Stuhl, betrachtete die einzelnen Gruppen und hörte auf das, was um ihn herum gesprochen wurde. Er war besonders deswegen verstimmt, weil er sah, wie alle lebhaft, eifrig und geschäftig waren und nur er allein mit einem uralten, zahnlosen, immer wispernd die Lippen bewegenden, kleinen Herrn in Marine-Uniform, der sich neben ihn gesetzt hatte, in Teilnahmslosigkeit und Untätigkeit verharrte.
»Das ist ein nichtswürdiger Heimtücker! Ich habe es ihm schon längst gesagt, aber er wollte es nicht glauben. Na ja! In drei Jahren hat er es nicht fertiggebracht, eine Versammlung zu berufen«, sagte in energischem Tone ein Gutsbesitzer von kleiner Gestalt und gekrümmter Haltung, dessen stark pomadisiertes Haar über den gestickten Kragen seiner Uniform hing, und stampfte kräftig mit den Absätzen seiner neuen, offenbar für die Wahlen angefertigten Stiefel auf den Boden. Er warf Ljewin einen mißvergnügten Blick zu und drehte sich kurz um.
»Ja, es ist eine unsaubere Geschichte, das ist nicht zu leugnen«, erwiderte ein anderer Gutsbesitzer, gleichfalls von kleinem Wuchse, mit hoher Stimme.
Nach diesen beiden kam ein ganzer Haufe von Gutsbesitzern, die einen dicken General umringten, eilig in Ljewins Nähe. Sie suchten offenbar eine Stelle, wo sie miteinander reden konnten, ohne von anderen gehört zu werden.
»Wie kann er sich erdreisten zu sagen, daß ich ihm habe die Hosen stehlen lassen! Ich denke mir, er hat sie versoffen. Und wenn er auch ein Fürst ist, ich habe auch nicht so viel Achtung vor ihm! So etwas darf er nicht zu behaupten wagen; das ist eine Unverschämtheit!«
»Aber erlauben Sie! Man beruft sich auf einen bestimmten Paragraphen«, wurde in einer anderen Gruppe gesagt. »Die Ehefrau muß als Adlige eingetragen sein.«
»Ich schere mich den Teufel um so einen Paragraphen! Ich rede die Wahrheit. Dafür sind wir richtige Edelleute. Wir können Vertrauen beanspruchen!«
»Euer Exzellenz, trinken wir ein Gläschen Likör!«
Ein anderer Trupp ging hinter einem Edelmanne her, der etwas mit lauter Stimme schrie; dies war einer der drei Betrunkenen.
»Ich habe Marja Semjonowna immer dazu geraten, das Land zu verpachten, weil sie selbst keinen Gewinn daraus erzielt«, sagte mit angenehmer Stimme ein Gutsbesitzer mit grauem Schnurrbart, in der Oberstenuniform des alten Generalstabes. Es war jener Gutsbesitzer, den Ljewin bei Swijaschski getroffen hatte. Er erkannte ihn sofort. Auch der Gutsbesitzer sah ihn scharf an, und sie begrüßten sich.
»Sehr angenehm! Gewiß, ich erinnere mich sehr gut. Im vorigen Jahre, bei Nikolai Iwanowitsch, dem Adelsmarschall.«
»Nun, wie geht denn jetzt Ihre Wirtschaft?« fragte Ljewin.
»Es ist immer dieselbe Geschichte; man wirtschaftet mit Verlust«, antwortete der Gutsbesitzer, der neben ihm stehengeblieben war. Er lächelte dabei ergebungsvoll; seine Miene war ruhig und bekundete seine Überzeugung, daß es eben so sein müsse. »Und Sie? Wie kommen Sie denn eigentlich in unser Gouvernement?« fragte er. »Sie sind wohl hergekommen, um bei unserm coup d'état 1 mitzuwirken?« fügte er hinzu; er sprach die französischen
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