Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Bescheinigung liege in seinem Arbeitszimmer, und sich dann rasch zu ihr wandte:
»Ich werde bestimmt morgen mit allem fertig sein.«
»Von wem ist denn das Telegramm?« fragte sie, ohne auf ihn zu hören.
»Von Stiwa«, antwortete er mit sichtlichem Widerstreben.
»Warum hast du es mir denn nicht gezeigt? Was könnt ihr beide, du und Stiwa, denn vor mir für ein Geheimnis haben?«
Wronski rief den Kammerdiener zurück und befahl ihm, das Telegramm zu bringen.
»Ich wollte es dir nicht zeigen, weil Stiwa eine Leidenschaft für das Telegrafieren hat; was hat es denn für Zweck, zu telegrafieren, wenn noch keine Entscheidung erfolgt ist.«
»Wegen der Scheidung?«
»Ja, er meldet: ›Habe noch nichts erreichen können. Er versprach endgültige Antwort in einigen Tagen.‹ Da, lies selbst.«
Mit zitternden Händen nahm Anna das Telegramm hin und las dasselbe, was Wronski vorgelesen hatte. Am Schlusse war noch hinzugefügt: »Wenig Hoffnung; werde alles mögliche und unmögliche tun.«
»Ich sagte dir ja gestern, daß es mir ganz gleichgültig ist, wann ich die Scheidung erreiche, ja sogar, ob ich sie überhaupt erreiche«, sagte sie errötend. »Es lag gar kein Anlaß vor, mir das Telegramm zu verheimlichen.« Und im stillen sagte sie sich: ›Ebenso kann er auch seine Briefe von anderen Frauen vor mir verheimlichen, und das tut er auch gewiß.‹
»Jaschwin wollte heute vormittag mit Woitow herkommen«, sagte Wronski. »Er scheint diesem Pjewzow im Spiel sein ganzes Vermögen abgewonnen zu haben, sogar mehr, als der überhaupt bezahlen kann, gegen sechzigtausend Rubel.«
»Nein«, sagte sie, gereizt dadurch, daß er durch diesen Wechsel des Gesprächsgegenstandes in so offensichtlicher Weise zeigte, daß er sie für gereizt halte und sie schonend behandeln wolle, »warum meinst du denn, diese Nachricht werde mich so aufregen, daß sie mir verheimlicht werden müßte? Ich habe gesagt, daß ich gar nicht daran denken will, und es wäre mir lieb, wenn du dich ebensowenig darüber aufregtest wie ich.«
»Mir ist die Sache wichtig, weil ich ein Freund klarer Verhältnisse bin«, antwortete er.
»Klarheit ist in der äußeren Form nicht so wesentlich wie in der Liebe«, erwiderte sie; sie geriet immer mehr und mehr in eine gereizte Stimmung, nicht infolge seiner Worte, sondern infolge des kühlen, ruhigen Tones, in dem er sprach. »Weshalb wünschst du das?«
›Mein Gott! Schon wieder die Liebe!‹ dachte er und runzelte die Stirn.
»Du weißt ja, weshalb: um deinetwillen und um der Kinder willen, die wir bekommen werden«, antwortete er.
»Wir werden keine Kinder mehr bekommen.«
»Das wäre sehr schade«, erwiderte er.
»Du wünschst das um der Kinder willen; aber an mich denkst du nicht?« sagte sie. Sie hatte ganz vergessen oder überhaupt nicht gehört, daß er gesagt hatte: » um deinetwillen und um der Kinder willen.«
Die Frage, ob sie noch mehr Kinder bekommen könnten und sollten, war schon seit längerer Zeit für die beiden ein Anlaß zu Streit, und Anna geriet bei solchen Gesprächen stets in Erregung. Seinen Wunsch, Kinder zu haben, faßte sie in dem Sinne auf, daß er auf ihre Schönheit nicht den gebührenden Wert lege.
»Aber ich habe ja doch gesagt: um deinetwillen. In erster Linie um deinetwillen«, antwortete er und zog, wie infolge eines körperlichen Schmerzes, die Stirn kraus. »Denn nach meiner Überzeugung rührt deine Reizbarkeit zum großen Teil von der Unbestimmtheit deiner Lage her.«
›Aha, jetzt hat er aufgehört, sich zu verstellen, und sein ganzer kalter Haß gegen mich kommt zum Vor schein‹, dachte sie, indem sie gar nicht auf seine Worte hörte, sondern mit Schrecken nach dem kalten, grausamen Richter schaute, der mit dem Ausdruck des Spottes, wie sie meinte, aus seinen Augen blickte.
»Die Ursache ist eine andere«, erwiderte sie, »und ich verstehe gar nicht einmal, wie die Ursache meiner, wie du es nennst, Reizbarkeit darin liegen könnte, daß ich mich vollständig in deiner Gewalt befinde. Inwiefern wäre denn da meine Lage unbestimmt? Im Gegenteil.«
»Es tut mir sehr leid, daß du mich nicht verstehen willst«, unterbrach er sie in dem hartnäckigen Wunsche, seinen Gedanken klar auszusprechen. »Die Unbestimmtheit besteht darin, daß du meinst, ich wäre frei.«
»In dieser Hinsicht kannst du völlig beruhigt sein«, antwortete sie, wandte sich von ihm ab
Weitere Kostenlose Bücher